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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Neujahrsnacht


(Auszug aus Kap. 23)


 
 
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Dann ritten sie unter dem Torturm hindurch, Hunde bellten, Türen wurden aufgerissen, aus dem Licht kamen Bedienstete und Soldaten gestolpert, gestürzt, gerannt, ein Stimmengewirr erhob sich, Fensterläden schlugen gegen Mauern, und irgendjemand verfiel darauf, die Glocke im Turm zu läuten. Der Freudentaumel war allgemein. Und dann standen sie endlich in einem warmen Zimmer vor einem mächtig lodernden Kaminfeuer, und Don Raffael gab den unvermeidlichen Befehl. "Zwei heiße Bäder! Sofort!"

Wie sich herausstellte, war das Wasser schon seit dem Vorabend heiß gehalten worden. "Wir wußten, daß Eure Hoheit es gleich nach der Rückkehr benötigen würden," sagte ein befriedigt strahlender Diener, "und zum Glück ist auch die Zofe noch da, die Ihr vorausgeschickt habt. Sie hätte sich ja gerne davongemacht; aber es fand sich niemand, der sie nach Corvalla mitnehmen wollte."

Obwohl sie an der Furt gemerkt hatte, daß die Nacht weniger kalt war, als es ihr scheinen wollte — das Flüßchen war nicht vereist —, behandelte Catterina ihre Hände und Füße vorsichtshalber erst einmal mit kaltem Wasser; denn die Rückkehr von Wärme und Gefühl war mit Schmerzen verbunden. Aber eine halbe Stunde nach der Ankunft wagte auch sie sich in den dampfenden Zuber und hatte noch nie ein Bad so sehr genossen. Ohne Bedauern sah sie, wie der Umhang und das Kopftuch weggeschafft wurden, unter denen sie sich versteckt hatte, und das zerrissene Kleid gleich dazu. Nur Don Raffaels finstere Miene gefiel ihr nicht. Er schien der einzige zu sein, der sich über die glückliche Rückkehr nicht freute; und da Catterina erriet, was ihm die Laune verdorben hatte, fragte sie beim anschließenden Essen, ob er am nächsten Tag nach Corvalla reiten wolle.

"Gewiß nicht," sagte Don Raffael, "solange Ihr hier seid, werde ich nicht von Eurer Seite weichen. Und Ihr werdet wohl mindestens eine Woche lang hierbleiben."

"Eine Woche —! Ja, aber ... wann werdet Ihr denn mit Don Francesco sprechen, oder mit der Donna Bianca?"

"Wenn ich nach Corvalla komme. Das ist sicher früh genug. Was Don Francesco wissen möchte, kann ich ihm auch schriftlich mitteilen, und mit der Donna Bianca werde ich ohnehin ebenso wie bisher stets nur in Eurer Gegenwart sprechen."

"Aber warum müssen wir denn so lange hierbleiben?"

"Weil ich keine Lust habe, nach Corvalla zurückzukehren; und Don Francesco wird der erste sein, der das gutheißt, glaubt mir! Sowie er etwas von Heuschobern, abgetragenen Kleidern und Bauernhöfen hört, wird ihn die Angst packen, wir könnten Flöhe oder Läuse oder ähnliche Ungeheuer in seinen blankgefegten Haushalt einschleppen. Er wird es nicht eilig haben, uns wiederzusehen."

"Nun gut," entschied Catterina, "dann möchte ich nachher in eine Neujahrsmesse gehen. Wir haben unterwegs davon gesprochen, wißt Ihr noch?"

Don Raffael war von dem Vorschlag nicht angetan und machte Einwände geltend; vergebens. Der Hausgeistliche war nach Corvalla zurückgekehrt: und wenn schon! Catterina hatte keine Angst davor, sich abermals auf ein Pferd zu setzen und drei Stunden lang in der nächstgelegenen Dorfkirche zu frieren, und ihre nassen Haare würden bis zum Aufbruch bestimmt noch trocknen. Ein bißchen Abhärtung konnte nicht schaden, und eine Mitternachtsmesse gehörte nun einmal zum Neujahrsfest. Es sei ihr ernst damit, mehr aus Gründen des Zeremoniells denn aus solchen des Glaubens. War es nicht üblich, einen neuen Lebensabschnitt mit einem Kirchenbesuch zu beginnen? Welchen Jahresanfang sollte sie da wohl mit einer Messe feiern, wenn nicht diesen? Außerdem, sie hatte genug Sünden zu bereuen und genug gute Vorsätze für die Zukunft gefaßt, um die Neujahrsgebete nicht bloß als Floskeln aufzusagen. Auch die Aussicht, daß sie, wenn sie eine Dorfkirche besuchte, gemeinsam mit Don Raffael ein Kind zur Taufe würde führen müssen, schreckte sie nicht ab.

Vor dem Beginn der Mitternachtsmesse wurden stets all jene Kinder einer Pfarrei getauft, die im anbrechenden Jahr ihren elften Geburtstag feiern würden. Zwei Paten unterschiedlichen Geschlechts führten das Kind zu einem Taufbecken in der Vorhalle der Kirche, wo der Pfarrer ihm offiziell den Namen verlieh, den es seit der Geburt trug, und es dabei unter den vorgeschriebenen Gebeten mit einer Handvoll salzigen Wassers begoß. Salzig war das Wasser, damit es sich während der Zeremonie nicht womöglich in Eis verwandelte; und in der Gegend von Corvalla wurde es zu diesem Zweck noch eigens aus dem Meer geholt. Wegen der winterlichen Temperaturen verzichtete man gnädig auf das völlige Untertauchen des Täuflings; die Kinder froren ohnehin schon genug, wenn sie ohne Mantel herumstanden, nur mit einem dünnen weißen Hemd über den Kleidern. Aber immerhin bekam jedes Kind vor dem feierlichen Einzug in die Kirche von seinen Paten einen neuen warmen Umhang, eine Mütze und ein Paar Fäustlinge geschenkt. Das war obligatorischer Teil der Zeremonie; bei den Kindern der Armen mußten die Kleidungsstücke von der Gemeinde gestiftet werden, und ein Paar gute Schuhe obendrein. Solche mildtätigen Gaben waren dann freilich stets zum Hineinwachsen gedacht und viel zu groß; und wenn man ausdrücken wollte, daß irgendjemands Herkunft äußerst bescheiden sei, sagte man gern: "Das ist einer, der beim Einzug in die Kirche gestolpert ist."

Das Dorf Flaõ, eine Achthundertseelengemeinde knapp eine Meile nördlich von Baia'Ncî, hatte zu Don Raffaels Erleichterung in diesem Jahr nur dreizehn zehnjährige Kinder aufzubieten, und Catterina benahm sich mustergültig, als sie ein unterernährtes kleines Mädchen, dessen Gesicht die Spuren von Mißhandlungen trug, zum Taufbecken führte und beim Nachsprechen unverstandener Gebete mit den Nasalvokalen des Dialekts von Corvalla kämpfte. Sie sorgte sogar dafür, daß das Kind beim Einzug in die Kirche nicht stolperte, indem sie ihm zeigte, wie es den Umhang vorne hochheben mußte, den es wie eine Schleppe hinter sich her zog, während es das Bibelwort "die Letzten werden die Ersten sein" in die Tat umsetzte. Denn Don Raffael hatte kurzerhand dasjenige Kind ausgewählt, das ursprünglich den Abschluß der Täuflingsprozession hatte bilden sollen; und da der Rang des Paten den Ausschlag gab, führte es diese Prozession jetzt an. Nach der Einsegnungszeremonie vor dem Altar durfte es sogar mit auf die Empore kommen, wo der Platz war, den man gewöhnlich Ehrengästen anzubieten pflegte. Don Raffael selbst trug es in seinen Armen die Stufen hinauf. Zum Glück war es ein verschrecktes Kind, das keineswegs zu Streichen aufgelegt schien. Dumpf staunend klammerte es sich an die Balustrade und starrte schniefend in den Lichterglanz der Kirche hinab, die es zum ersten Mal von innen sah. Es roch nach Krankheit und jeglicher Art von Schmutz, und Don Raffael betrachtete argwöhnisch das knochige Gesichtchen, das bestenfalls eine Katzenwäsche hinter sich haben konnte. "Vermutlich werden wir heute nacht noch einmal baden müssen," sagte er seufzend, als unten in der Kirche einer der fünf langwierigen Gesänge angestimmt wurde, mit denen die Messe begann.

Catterina sah sich nach den beiden Soldaten der Eskorte um, die hinter ihnen standen, und sagte leise: "Schickt diese Leute weg, meinetwegen, um das Bad zu bestellen! Ich wollte unbelauscht mit Euch sprechen und wußte nicht, ob das in Baia'Ncî möglich ist. Das Kind hier wird mich ja hoffentlich nicht verstehen."


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
23. Das Damenopfer/M2