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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Corvalla


(Auszug aus Kap. 21)


 
 
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Unter dem breiten Torbogen der Festung blieb Don Raffael plötzlich stehen und drehte sich so abrupt um, daß er fast mit dem Offizier seiner Eskorte zusammenprallte. Nein; er konnte jetzt nicht die Treppen hinaufsteigen und sich an seinen Schreibtisch setzen, als sei nichts vorgefallen. Er konnte nicht da sitzen und sich mit irgendwelchen Akten beschäftigen, bis die Stunde für das Abendessen bei Don Francesco kam. Schlagartig fiel ihm auf, daß er schon seit geraumer Zeit vor Zorn zitterte und nicht wußte, wann er zum letzten Mal in seinem Leben so zornig gewesen war. Es war nicht möglich, diesen Zorn in seine friedlichen Zimmer hinaufzutragen, wo die Frau auf ihn wartete, aus der er — wie hatte der Stadthauptmann es doch genannt? ja, richtig: ein unvermeidliches Opfer! — gemacht hatte.

So nahm er, nicht eben zur Freude der Eskorte, seinen Weg wieder auf, von der Festung aus die Gasse hinunter, bis er kurz vor dem Stadttor abermals umkehrte und dann in eine Gasse abbog, die in östlicher Richtung an der Stadtmauer entlangführte. Eine gute Stunde lief er kreuz und quer durch die Stadt in dem Bestreben, sich zu beruhigen, bei jedem Schritt erstaunt darüber, daß sein Fuß Halt auf dem Pflaster fand; denn das Gefühl, daß man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, wollte ihn nicht verlassen. Schließlich blieb er eine Weile am Rathausbrunnen stehen, stützte sich mit dem Händen auf die Brunneneinfassung und hörte dem Plätschern des Wassers zu, das nicht mehr sichtbar war. Inzwischen war es zu dunkel geworden, um noch weiter herumzulaufen: Corvalla war des Nachts sparsamer beleuchtet als Valanta oder die Hauptstadt, und als er sich vom Brunnen abwandte, konnte Don Raffael selbst die Soldaten seiner Eskorte kaum noch erkennen, obwohl sie nur wenige Schritte von ihm entfernt standen. Aber der Gedanke, in die Festung zurückzukehren, war ihm so unerträglich wie zuvor; daher ging er kurzentschlossen zum Dom, wo, wie er wußte, um diese Zeit die tägliche Abendandacht stattfand.

Die Laternen vor dem Dom brannten die ganze Nacht hindurch, und auch von innen war das Gebäude ständig erleuchtet. Das war die einzige Verschwendung, die man sich stadtväterlicherseits in Corvalla leistete; aber an dieser Verschwendung hielt man schon seit Jahrhunderten und sogar in Notzeiten fest. "Die Lichter im Dom werden erst verlöschen, wenn die Welt untergeht" war geradezu die Devise der Stadt, und manchmal hörte man sie sogar in einer steigernden Umkehrung: "Wenn die Lichter im Dom verlöschen, geht die Welt unter." Im übrigen blieb der Dom auch niemals leer; selbst in den tiefsten Nachtstunden fand man darin ein Grüppchen von wenigstens fünf — männlichen — Bürgern der Stadt, hauptsächlich Mitglieder von Handwerkerverbänden und Kaufmannsgilden, die sich bei dieser immerwährenden Nachtwache nach einer Jahr für Jahr neu festgelegten Reihenfolge abwechselten. Das war nicht eigentlich Glaubenseifer. Obwohl man sich die kalten Nachtstunden im Dom meist mit Gebeten verkürzte, galt die Versammlung doch nicht vorrangig diesem Zweck. Nein, man bewachte die Bilder: die Fresken an den Wänden, die Falttafeln über den Altären, die Statuen an den Säulen und auf den Gesimsen und das große Kruzifix auf den Chorschranken. Das tat man unbeirrt, obwohl eine solche Wache seit gut zweihundertfünfzig Jahren nicht mehr nötig war. Aber die Stadt Corvalla hatte in ihrer Geschichte sehr wenige Siege errungen und hielt daher mit großer Hingabe die Erinnerung an jenen Sieg des Jahres 1283 aufrecht, wo sie eine vom König und vom Bischofskollegium verteidigte Glaubensreform aus den Angeln gehoben hatte.

Bis zum Jahr 1230 war die Religion des Landes ein relativ uneinheitliches Gebilde gewesen; jede Stadt und jedes Herzogtum, ja, fast jede Pfarrei, hatten — vor einem gemeinsamen, aber schon ziemlich verwaschenen christlich-arianischen Hintergrund — ihre eigenen Kulte und Riten gepflegt. Aber als das Land unter Clemens Maurizio ein geeintes Königreich wurde, war auch die Religion vereinheitlicht und reformiert worden, und unglücklicherweise hatte man dabei einem strengen Purismus gehuldigt, dem nicht nur Klöster und Klerikerprivilegien zum Opfer fielen, sondern — als heidnische Auswüchse verdammt — auch Heiligenverehrung, Wallfahrten und ein überhandnehmendes Eremitenunwesen. Zuletzt hatte man gar noch ein rigoroses Bilderverbot ausgesprochen und die Pfarreien angewiesen, alle Statuen aus ihren Kirchen zu entfernen und alle Fresken darin zu übertünchen. Nun war Clemens Maurizio offenbar ein Herr gewesen, mit dem niemand sich gerne anlegte, und die Stadt Corvalla hatte sich seinen Befehlen so widerspruchslos gefügt wie jede andere. Sie war damals eben im Begriff, eine alte Bischofskirche durch den neuen großen Dom zu ersetzen, der sich folglich noch im Bau befand. Den Inspektoren, die angereist kamen, um den Vollzug des königlichen Willens zu überprüfen, hatte man jedoch zumindest die vier übrigen Pfarrkirchen — Corvalla war auch zu jener Zeit schon eine große Stadt mit etwa dreißigtausend Einwohnern — blütenweiß und völlig von Statuen entleert gezeigt.

Aber Clemens Maurizio war 1269 gestorben, und als elf Jahre später der Dom fertiggestellt wurde, hatte die Stadt den Bau nicht nur mit Chorschranken ausstatten lassen — obwohl es keine Mönche mehr gab, die sich dahinter abschließen konnten —, sondern auch seine Ausmalung mit Bibelszenen in Auftrag gegeben, ohne sich um die zahllosen einander jagenden Verbote, Drohungen und Verdammungsurteile aus Atthagra zu kümmern. Über den Verlauf des jahrelangen Konflikts berichtete jede Chronik anders. Offenbar hatte es Attentate auf die Maler gegeben, Versuche, die Bilder zu zerstören, Brandstiftung, Entführungen verantwortlich gemachter Kleriker, die dann in Atthagra abgeurteilt wurden, und zuletzt sogar eine Art Entscheidungskampf, wobei eine königliche Truppe in die Stadt eindrang und den Dom belagerte, in dem ein großer Teil der Bürgerschaft sich verschanzt hatte, um die Bilder zu verteidigen. Aber eine Kirche griff man nicht bedenkenlos an, mochte sie noch so sehr durch gottlose Gemälde verunziert sein, und bevor die Belagerten von Hunger und Durst zum Aufgeben gezwungen werden konnten, hatte der Rest der Stadtbevölkerung sich mit Todesverachtung auf die Soldaten gestürzt und sie unter Zuhilfenahme aller als Waffen verwendbaren Gerätschaften aus den Mauern vertrieben. Die wenigen Bürger, die bei diesem Aufruhr ums Leben gekommen waren, hatte man im Dom beigesetzt und als Märtyrer verehrt, vor allem, nachdem — da in zahlreichen Städten des Landes bereits ähnliche Kämpfe aufflackerten — König und Bischofskollegium sich dazu durchringen mußten, das Bilderverbot ebenso zurückzunehmen wie das Verbot der Heiligenverehrung: mit Einschränkungen freilich, denn Wallfahrten und die Darstellung Gottes blieben nach wie vor untersagt.

Die Stadt Corvalla hatte diesen Erfolg begeistert gefeiert und dabei nach Aussage einiger Chronisten auch demonstriert, daß sie sich niemals endgültig von ihren Bildern getrennt hatte. Die Heiligenstatuen kehrten unverzüglich aus den Lagerräumen, wo sie unter alten Lumpen oder Gerümpel überwintert hatten, auf ihre Säulen und Podeste zurück, und in den vier Pfarrkirchen wurden die Wandverkleidungen abgenommen, von denen die nie übertünchten Fresken bloß verhüllt gewesen waren: das hohe Ansehen des Gerberberufs in Corvalla wurde gern mit der Sage begründet, die Gerber hätten die bedrohten Fresken mit weißgefärbtem Leder überspannt. Vermutlich war es aber doch eher Leinwand gewesen. Soviel Leder, wie man gebraucht hätte, um diese Bilderflut zu bedecken, konnte selbst in einer weit größeren Stadt als Corvalla nicht vorrätig sein — wenn man von den gegenwärtigen Zuständen auf die früheren schloß; hatte Corvalla doch in den Jahrhunderten, die seither vergangen waren, weiterhin hemmungslos seinem Bilderkult gefrönt. In allen Kirchen fand sich kein noch so winziges Fleckchen weißer Tünche, jeder Vorwand, eine Heiligenstatue aufzustellen, kam gelegen, die Kirchenfassaden wimmelten von Engeln und Propheten, und an den Chorschranken des Doms, die offenbar vorwiegend als Deponie für Steinmetzarbeiten errichtet worden waren, hatten sich inzwischen wohl mehr Heilige versammelt als im Himmel selbst. In den ersten Jahrzehnten nach der Aufhebung des Verbots hatte man die Bilder tatsächlich bewachen müssen, denn das Land blieb für eine Weile in Bilderstürmer und "Götzenbildanbeter" gespalten, und Anschläge auf Heiligenbilder waren an der Tagesordnung gewesen. Alle derartigen Fehden waren jedoch seit Menschengedenken beendet. Sogar Valanta, die Stadt, von der die Reform ausgegangen war, hatte sich längst zu einer weniger schmucklosen Auffassung des Glaubens bekehrt. Und trotzdem hielten die Bürger von Corvalla immer noch Wache in ihrem Dom.

In der Geschichte Corvallas gab es gar manches, was Don Raffael bizarr und unerfreulich fand; aber diese Episode hatte ihn stets am meisten irritiert. Vierhundert Jahre lang — zwischen 1100 und 1500 — hatte Corvalla unter der Tyrannei einer einzigen Bankiersfamilie gelebt, einer Gewaltherrschaft, wie sie kaum schlimmer sein konnte, ohne jeden legalen Anstrich außer dem, den sie sich selber gab. Kein Mitglied der Familie, die im lokalen Dialekt Bãdej genannt wurde, hatte während dieser vierhundert Jahre ein öffentliches Amt in der Stadt ausgeübt — wozu auch? Neben dem Bendetti-Regime hatten die amtliche Obrigkeit und die königlichen Gesetze ein bloßes Schattendasein geführt. Wegezölle, Gemüsepreise, Sperrstunden in den Gasthäusern, Aufwand bei Familienfeiern, Größe, Aussehen und Baumaterial neuer Häuser, Zulassung von Verkaufsplätzen auf den Märkten, alles war den Bendetti vorgelegt und von ihnen diktiert worden. Kein Bürger hatte auch nur zu husten gewagt, ohne vorher die Bendetti um Erlaubnis zu fragen. Es gab ein riesiges Archiv in der Festung, in dem die permanente Einmischung des Clans in kleine bis kleinste Belange der Stadt und ihrer Bewohner ebenso minutiös dokumentiert war wie die Unterwürfigkeit, mit der dieser Zwang hingenommen wurde."Parυ Pirro Finci fragt an, ob er seinem Nachbarn Parõ Sanni di Colso zwanzig Ori leihen darf", "Parõ Matteo Mpai bittet darum, heuer einen Lehrling mehr als im letzten Jahr annehmen zu dürfen", "Parõ Paolo a'Nofri möchte wissen, ob und zu welchem Preis er sein Gärtchen bei der Stadtmauer seinem Neffen Parõ Ugo Sammarti verkaufen darf" waren typische Beispiele aus der Unmenge von Anliegen, welche im Lauf der Jahrhunderte in die Festung getragen worden waren, damit sie dort fein säuberlich notiert und nach Maßgabe der Familieninteressen entschieden werden konnten. Wer versuchte, sich diese Prozedur zu ersparen, und dabei ertappt wurde, mußte es teuer bezahlen. Auch darüber legte das Familienarchiv umfassend Zeugnis ab. Denn die Bendetti hatten innerhalb der Stadtgrenzen eine private Gerichtsbarkeit aufgebaut — weit effektiver als die staatliche —, die solche Missetäter ohne Säumen vorlud und gnadenlos mit Geld- oder Körperstrafen belegte — vorzugsweise das erstere; das zweite traf nur diejenigen, die nicht zahlen konnten oder wollten. Kleine Leute wurden in solchen Fällen meist verprügelt oder stundenlang an Armen oder Beinen aufgehängt — und zwar in einem Raum im Erdgeschoß der Festung, der nur durch ein Gitter von der Straße getrennt war: damit alle Vorübergehenden es sehen konnten —, Angehörige von Kaufmannsgilden und Mitglieder des Patriziats aber verloren so nicht selten ein Ohr, ein Auge, einen Finger, ein Kind oder gar das Leben. Und jede Untat geschah so öffentlich wie möglich, war ihr Nebenzweck doch Einschüchterung. Wenn die Bendetti einen Mord in Auftrag gaben oder selbst ausführten, dann blieb die entstellte Leiche auf der Straße liegen, und der Mörder trug noch Wochen nach der Tat irgendein Besitztum des Opfers — ein Kleidungsstück, einen Ring, eine Amtskette — gut sichtbar mit sich herum, ohne daß dieses öffentliche Eingeständnis je eine Strafverfolgung nach sich gezogen hätte.

Die Folgen für die Stadt waren verheerend gewesen. Während es in Valanta gut zweitausend Familien gab, die man als mehr oder minder wohlhabend bezeichnen konnte, und fast dreihundert, die ausgesprochen reich waren, waren die Bendetti im Lauf der Zeit mehr als zwanzigmal so reich geworden wie der gesamte Rest der Stadt, der sie das Lebensblut aussaugten. Mit unrechtmäßig erhobenen Steuern und willkürlich festgesetzten Zinsen hatten sie jeden geschädigt, der Vermögen besaß oder zu erwerben suchte. Niemand hatte in Corvalla je etwas erworben oder behalten, das die Bendetti besitzen wollten, niemand außer ihnen hatte hier je wirklich reich werden dürfen — mit dem Erfolg, daß die Stadt, die dereinst mit Valanta konkurriert hatte, kurz vor dem endgültigen Absturz in die Bedeutungslosigkeit stand, als das Schicksal sie von der Geißel befreite.

Denn es war das Schicksal gewesen, das sie befreit hatte. Im Herbst des Jahres 1514 hatte eine der Seuchen, von denen die Stadt dank ihrer unhygienischen Zustände regelmäßig heimgesucht wurde, auch vor der Festung nicht haltgemacht und binnen eines Monats die drei letzten männlichen Bendetti hinweggerafft, Don Raffaels Großvater und dessen beide Söhne; nur die fünfzehnjährige Tochter Maria war vom Krankenbett wieder aufgestanden, um Alleinerbin des Vermögens und gezwungenermaßen Fürstin von Orsino zu werden. Es stimmte wohl, die Familie war seit mehreren Generationen unaufhaltsam geschrumpft und durch jahrhundertelange Inzucht geschwächt gewesen; aber daß selbst dieses verlöschende Feuer noch die Ausmaße eines Waldbrandes erreichen konnte, hatte Don Raffaels Mutter hinlänglich bewiesen, und Don Raffael bedauerte ernstlich, daß Mutterschaft sich nicht so leicht in Zweifel ziehen ließ wie Vaterschaft. Auf solche Vorfahren legte er keinen Wert, und es war beileibe nicht das Bürgerblut, das ihn störte.

Wenn aber etwas seinen Abscheu vor den Bendetti noch übertraf, dann war es seine Verachtung für die Stadt, die ihre Tyrannei vierhundert Jahre lang ertragen und niemals den Mut gefunden hatte, sich geschlossen zu erheben, um sie wie räudige Hunde totzuschlagen. Versuche einzelner, sich zu widersetzen, hatte es gewiß gegeben, und gar nicht einmal so selten; aber sie waren ausnahmslos tragisch gescheitert, weil sie keinen Rückhalt in der Stadtbevölkerung fanden. Vierhundert Jahre lang hatte Corvalla demütig und ergeben die blanke Sklaverei erduldet; den Griff in seine Geldbörsen wie den unter die Röcke seiner Frauen, die beiden tödlichsten Todsünden einer Despotie, hatte es gleichermaßen unbewegt hingenommen — und eines Tages, mittwegs zwischen Anfang und Ende ihrer Leidenszeit, war die gesamte Stadt einträchtig in Aufruhr geraten und hatte siegreich gegen die königliche Zentralmacht rebelliert; aber wozu? Um ein paar lächerliche, abgeschmackte Bilder zu retten, deren Existenz oder Nichtexistenz ohne Einfluß auf die Tatsache der tagtäglichen Erniedrigung blieb. Mit diesem Aufstand hatte Corvalla gezeigt, daß es gekonnt hätte, was es offensichtlich nie gewollt hatte.

Don Raffael hatte viel von seiner Zeit im Familienarchiv damit verbracht, der Frage nachzuspüren, ob die Rebellion, die fraglos nur mit Billigung der Bendetti hatte stattfinden können, nicht letzten Endes sogar von ihnen befohlen worden war. Aber dieses Geheimnis gab das Archiv nicht preis. Die Bendetti hatten sich bei der Finanzierung des Dombaus auffallend spendabel gezeigt und nachher den Raum innerhalb der Chorschranken als eine Art Privatkirche für sich beansprucht, gewiß; aber das war nicht mehr, als man von einer Familie erwarten durfte, deren jeweiliges Oberhaupt einerseits die Stadt beherrschte und andererseits beim Gedanken an Ewigkeit und göttliches Strafgericht leicht vorzeitig ins Schwitzen geraten konnte. Ansonsten ließ sich aus dem Archiv nur eine ganz unübliche, aber konsequente Nichteinmischungspolitk herauslesen. Entweder hatte nie jemand eine Erlaubnis für etwas benötigt, das mit den Ereignissen zusammenhing, oder man hatte alle diesbezüglichen Vorgänge mündlich abgewickelt. Nach dem Aufstand war niemand für seine Teilnahme bestraft oder belohnt worden, und der einzige direkte Hinweis darauf, daß er stattgefunden hatte, war eine Lücke von fünf Tagen in den Aufzeichnungen: zwischen dem 11. und dem 17. September 1283 war kein Bürger der Stadt mit einem Anliegen in die Festung gekommen, kein Missetäter vorgeladen, kein Geschäft abgeschlossen und kein Brief geschrieben worden. Das konnte nicht daran liegen, daß man nachträglich Teile der Bücher vernichtet hatte; denn die Eintragungen wurden am 17. September kommentarlos auf derselben Seite weitergeführt, auf der sie am 11. abgebrochen waren. Im besten Fall ließ das Archiv die Vermutung zu, daß die Geschichte von der Verhüllung der Bilder in den Pfarrkirchen eine Legende war: 1231, im Jahr des Bilderverbots, hatte sich kein gesteigerter Verbrauch von Leinwand oder Leder in den Rechnungsbüchern niedergeschlagen. Als Beweis konnte das jedoch nicht gelten, und Don Raffael stand trotz aller Nachforschungen immer noch ratlos vor der Frage, ob Corvalla im Jahr 1283 den Befehlen eines greisen Stadtherrn gehorcht hatte, der auf den geradezu ungeheuerlichen Vornamen Innocenzo hörte, oder ob der Volkswillen in dieser einen, einzigen Frage so gebieterisch gewesen war, daß nicht einmal die Bendetti gewagt hatten, sich ihm entgegenzustellen. Und dabei war es noch verwunderlich, daß Don Raffael sich so gründlich mit dieser Frage befaßt hatte, da doch von vornherein feststand, daß keine der beiden möglichen Antworten sein vernichtendes Urteil über Corvalla im geringsten abschwächen würde. Aber die Geschichte besaß wie alle ungelösten Rätsel eine beachtliche Anziehungskraft; sie war fast ebenso penetrant wie der Geruch, der über den Straßen hing, und bei Don Raffaels Besuchen in Corvalla verging kaum ein Tag, an dem er nicht auf die eine oder andere Weise daran erinnert wurde. Heute war es Gianfrancesco da Mertola gewesen, der sie ihm nachhaltig ins Gedächtnis gerufen hatte.


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