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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Catterinas Tante


(Auszug aus Kap. 3)


 
 
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Die Übersiedlung nach Valanta rettete vermutlich Catterinas Leben; mit Sicherheit jedoch zog sie eine Reihe von Verbesserungen nach sich. Nicht nur, daß Balthasar Benocchio die Spinnräder vor der Abreise verkaufte; auch die Hirsebreidiät, die er seinen Kindern in Atthagra verordnet hatte, wurde hinfort durch reichlich Fleisch, Gemüse und Obst ergänzt. Mehr noch: schon kurz nach dem Umzug fand Catterina sich von allen Haushaltspflichten befreit; sie avancierte stattdessen zur Gesellschafterin der Tante, ein Vorzug, den sie ausschließlich ihrer Erziehung zu danken hatte. Denn eigentlich waren ihre Schwestern ja williger und freundlicher als sie. Sie waren aber auch derber und dümmer; und vor allem: sie konnten nicht lesen.

Catterina erhielt deshalb die Möglichkeit, ihre Bildung zu vervollständigen, indem sie der Tante jahraus jahrein jeden Nachmittag aus der Bibel, aus Reisebeschreibungen, Ritterromanen, Erbauungsbüchern und Novellensammlungen vorlas. Meist fanden sich auch ihre Schwestern oder ihre Mutter mit irgendeiner Näharbeit zu diesen Lesestunden ein. Es entstand dabei etwas, das zumindest an der Oberfläche wie familiäre Eintracht aussah, und die Fähigkeiten, die Catterina in Martin di Cabirezzos Haus erworben hatte, verschafften ihr nach soviel Demütigungen endlich doch ein gewisses Ansehen innerhalb der Familie.

Bald war es auch nicht mehr nur die Fähigkeit zu lesen, sondern in noch höherem Maß ihr Harfenspiel, was die Tante an Catterina schätzte. Sie konnte sich gar nicht daran satthören und war so entzückt von Catterinas Künsten, daß sie ihr jenes unbenutzte Zofenzimmer unter dem Dach zur Verfügung stellte, mit der Erlaubnis, dort in jedem freien Augenblick zu üben; und sie sorgte obendrein dafür, daß Catterina von da ab sehr viele solcher freien Augenblicke hatte; selbst an den obligatorischen weiblichen Nadelarbeiten brauchte sie sich nun nicht mehr zu beteiligen. "Sie soll lieber Harfe spielen," pflegte die Tante zu sagen, sooft die Rede darauf kam, "das kann sie besser, und wir werden auch ohne sie fertig."

All dies tat die Tante für Catterina, ohne sonderlich viel Sympathie für sie zu empfinden; denn Catterinas verschlossenes und einsilbiges Wesen war ihr nicht angenehm. Sie respektierte es zwar, weil sie es für ein Zeichen guter Erziehung hielt; aber sie fand wesentlich mehr Gefallen an dem ungezwungenen Umgang mit Catterinas Schwestern, an deren anspruchsloser Beflissenheit, an dem Getratsche, Geschnatter und Gekicher, das so recht ihren Vorstellungen von einem traulichen Familienleben entsprach.

Und Catterina? Nun, natürlich war sie der Tante dankbar für die erwiesenen Wohltaten — dankbarer, als sie überhaupt zu zeigen vermochte; und es kränkte sie keineswegs, daß sie durch solche Wohltaten noch offenkundiger als bisher aus dem Familienkreis ausgeschlossen wurde. Sofern eine böse Absicht dabei war, kam diese jedenfalls ihren eigenen Wünschen entgegen. Trotzdem, so seltsam es klingt, war Catterina nicht froh über die Erleichterung ihrer Lage und hätte es vorgezogen, daß alles beim alten blieb. Denn was ihr Dasein erträglicher machte, ließ es in Wahrheit erst unerträglich werden. Als sie wieder wie ein Mensch behandelt wurde, begann sie auch wieder wie ein Mensch zu empfinden. Bildlich gesagt: ein Betäubter wird sogar sehr schmerzhafte Verletzungen klaglos hinnehmen, während jemand, der bei vollem Bewußtsein ist, schon wegen einer verhältnismäßig harmlosen Wunde aufschreit. Catterinas Gefühle aber erwachten jetzt aus dem Winterschlaf der Verzweiflung und stürzten sich ausgehungert auf jedes Erlebnis.

Es kostete sie einen Großteil ihrer Unerschrockenheit; und sie sah sich plötzlich gezwungen, die Person zu spielen, die sie vorher wirklich gewesen war. Sie wurde dadurch noch steifer und zurückhaltender; denn Schauspielerei bringt von vornherein eine gewisse Gefahr der Übertreibung mit sich, und Catterina war in dieser Kunst weder durch Neigung noch durch Talent zu großen Leistungen fähig. Außerdem gehört etwas mehr als nur schauspielerisches Talent dazu, Unerschrockenheit und Kaltblütigkeit zu heucheln... Über Jahre hinweg vermochte Catterina ihre Rolle nur dank angestrengter Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. Schon deshalb wich sie auf jede Weise vor ihrer Tante zurück, deren Freundlichkeit — und dabei war es doch, deutlich genug erkennbar, nichts weiter als eine gleichgültige, bornierte, mechanische Geste — sie mehr erschütterte als die Brutalität ihres Vaters. Und es dauerte sehr lange, bevor sie durch Gewohnheit soweit abstumpfte, daß sie sich nicht nach jedem Gespräch mit der Tante eilig in den nächstgelegenen dunklen Winkel flüchten mußte, um dort in Ruhe die aufsteigenden Tränen niederzukämpfen.

Dabei hatte Catterina schon früh herausgefunden, daß die Tante eine ziemlich dumme Frau war: die Zwischenrufe und Randbemerkungen, mit denen sie vorgelesene Bücher kommentierte, ließen keinen anderen Schluß zu und überschritten sogar, besonders bei der Lektüre von Reiseberichten, häufig die Grenze zur Komik. Reiseberichte waren die Lieblingsbücher der Tante. Es gab sie zu hunderten in jeder Preisklasse zu kaufen, und die Tante besaß eine repräsentative Sammlung davon; mit gutem Grund: ihr Gatte hatte dereinst selbst ein solches Buch verfaßt. Er war damit einer Sitte oder Unsitte gefolgt, die bei vom Kontinent heimgekehrten Kaufleuten wie eine Seuche grassierte. Sobald sie in der Heimat Fuß gefaßt hatten, wurden sie fast ausnahmslos von dem Drang ergriffen, ihren Mitbürgern Rechenschaft über die auswärts vollbrachten Heldentaten abzulegen und ihnen zu erklären, daß und warum es nirgends schöner als zuhause sei. Auf diese Formel ließen sich eigentlich alle Werke der Gattung bringen, die Catterina zu Gesicht bekam. Ansonsten wichen sie freilich stark voneinander ab, nicht nur im Hinblick auf Talent, Eitelkeit, Phantasie und Reiseroute ihrer Verfasser. Sie widersprachen einander sogar in der Darstellung derselben Länder, Personen und historischen Ereignisse; und nachdem Catterina eine Weile versucht hatte, die wirren Vorstellungen von europäischer Geschichte und Topographie zu ordnen, welche die Lektüre ihr vermittelte, sah sie schließlich ein, daß keiner dieser Berichte als zuverlässiges Zeugnis gewertet werden durfte.

Zu einer solchen Einsicht war die Tante nicht fähig. Sie bewahrte das Buch ihres Gatten wie ein Heiligtum in ihrem Schlafzimmer auf, in einem eigens angefertigten, silberbeschlagenen, mit Samt ausgelegten Holzkästchen, wo es freilich nie allzulange verschlossen blieb; denn Catterina mußte es der Tante so oft vorlesen, daß sie es nach einigen Jahren teilweise auswendig hersagen konnte. Es war das einzige Buch, bei dessen Lektüre sie unwillkürlich zu leiern begann; denn, wahrhaftig, schon nach der zweiten Wiederholung bot es ihr keine Überraschungen mehr. Die Tante sah das anders. Alles, was ihr Gatte, auf eine besonders pedantische, umständliche Weise, über seine Erfahrungen in Frankreich zu berichten wußte, erschien ihr als biblische Offenbarung. Sie war stets aufs neue empört über den Gauner, der ihn mit einem gefälschten Wechsel betrogen hatte, sie rang noch jedesmal die Hände, wenn von seiner irrtümlichen Inhaftierung in Rouen die Rede war, und zitterte bei der Schilderung eines Unwetters zur See jedesmal wieder um das Leben des teuren Verblichenen.

Grundsätzlich war sie übrigens bereit, den Aussagen anderer Verfasser ebensoviel Vertrauen und Mitgefühl entgegenzubringen. Auf die Schilderung ihrer diversen Kalamitäten und Erfolge reagierte sie stets mit genau den Gefühlen, die der Autor beim Schreiben im Leser zu wecken gehofft hatte; deshalb geriet sie auch in Verwirrung, sooft sie in solchen Reiseberichten eine Behauptung entdeckte, die den Erzählungen ihres Gatten allzu augenfällig widersprach. "Das muß ein Irrtum sein," war ihre erste Reaktion, und "wie kann man nur so lügen? das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten!" ihre zweite. Sie war danach meist ziemlich bedrückt über die Schlechtigkeit der Welt — "man darf einfach niemandem trauen!" —, und konnte dem inkriminierten Autor wenigstens zwei Seiten lang keinen Glauben mehr schenken. Glücklicherweise fiel ihr nur ein Bruchteil der tatsächlich vorhandenen Widersprüche auf; aber selbst wenn sie alle ohne Ausnahme wahrgenommen hätte, hätte kein Schatten eines Zweifels ihre glasklare Überzeugung von der absoluten Ehrlichkeit ihres Eheherrn getrübt. Und die Widersprüche zwischen zwei indifferenten Autoren nahm sie überhaupt nicht zur Kenntnis; dafür war ihr Gedächtnis zu kurz.

Catterina sah sich schon nach wenigen Monaten gezwungen, diese Naivität der Tante — die sich freilich nicht auf den Umgang mit Geld oder Dienstpersonal erstreckte — zu belächeln. Sie lächelte auch nach mehreren Jahren noch darüber; aber sie tat es stets mit schlechtem Gewissen. Es leuchtete ihr durchaus ein, daß alles, was dem Verstand der Tante ein schlechtes Zeugnis ausstellte, ihrem Herzen Ehre machte, und daß es Überheblichkeit war, sich darüber zu mokieren. Dennoch, in Catterinas Interesse wäre es wünschenswert gewesen, daß die Tante nicht nur Herz, sondern auch Verstand besessen hätte. Sie war die einzige vertrauenswürdige Person in der Familie, und trotzdem konnte Catterina kein Vertrauen zu ihr fassen. Es war unmöglich, mit dieser biederdenkenden Frau offen zu sprechen, und Catterina unternahm nie den geringsten Versuch, es zu tun. Wie hätte die Tante denn auch Gefühle verstehen sollen, die allesamt über den Rand ihrer Weltvorstellung hinwegkippten? Jeder Einblick in Catterinas Wesen und Denken, den die Tante eher unfreiwillig und durch bloße Beobachtung gewann, zog stets das gleiche kopfschüttelnde Mißfallen nach sich.


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Roman von Pia Frauss
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