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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

1    König
            Kophetua


 
 
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Raffael de Roccaferrata war dreiundzwanzig Jahre alt, blond, blauäugig, sehr hellhäutig, nicht allzu groß, aber doch stämmig gebaut. Ein leidlich hübscher junger Mann, gewiß, dachte die Tochter des Hauses, als sie ihm vorgestellt wurde; dennoch war er weitaus nicht hübsch genug! Sein Aussehen rechtfertigte jedenfalls in keiner Weise das Aufhebens, das man in der ganzen Stadt um seine Person machte. Wenn sie in Gesellschaft ging, ließ es sich nicht vermeiden, daß sie zwischen anderen jungen Mädchen saß. Sie hatte keine Freundinnen und beteiligte sich eigentlich nie an Gesprächen; aber es kam doch häufig genug vor, daß auch sie mit halbem Ohr auf das hörte, worüber die anderen sich unterhielten, und so erfuhr sie zwangsläufig ständig etwas Neues über Raffael de Roccaferrata: wo er am Vorabend zu Gast gewesen war, wie er das jüngste Theaterstück beurteilt hatte, daß er für zwei Wochen nach Orsino reisen wollte, welch prächtigen Anzug er am Sonntag in der Messe getragen hatte, worüber er mit diesem oder jenem Mädchen während eines Tanzes gesprochen hatte; und die glücklichen Mädchen, die mit ihm hatten tanzen dürfen, waren allerorten Gegenstand ungeheuchelten Neides. Man bewunderte ihn, man liebte ihn, man betete ihn an. Diese Verrücktheit ergriff offensichtlich auch Mädchen, denen man ihren sonstigen äußerungen zufolge eigentlich mehr Verstand hätte zutrauen können.

Schon vor langer Zeit war Catterina Athenaïs bei sich zu dem Schluß gekommen, daß an einem solchen Liebling der Gesellschaft nichts außergewöhnlich sein konnte — es sei denn seine illustre Abstammung, sein großes Vermögen und seine Aussicht, in naher Zukunft Fürst von Orsino zu werden. Seither hatte sie kaum noch über ihn nachgedacht; am wenigsten freilich hatte sie damit gerechnet, ihm eines Tages gegenüberzustehen, noch dazu im Haus ihrer Familie, die ihrem gesellschaftlichen Rang nach niemals hoffen durfte, einen solchen Gast zu empfangen.

Was immer aber Don Raffael bewogen haben mochte, über die bescheidene Schwelle dieses Kaufmannshauses zu treten: hier stand er, inmitten eines trüben Tümpels von maßlos übertriebener Hochachtung; seit seinem Eintritt hatte er sich mit freundlichem Gleichmut zwischen den Niedriggeborenen bewegt und mit keiner Miene, keiner Geste gezeigt, daß er das Unnatürliche und Unbeholfene im Benehmen seiner Umgebung bemerkte. Auch jetzt lächelte er freundlich und gleichmütig, als die Tante ihm Catterina vorstellte. Er verbeugte sich leicht und sagte mit einer zugegebenermaßen schönen, dunklen, einschmeichelnd sanften Stimme: "Es freut mich sehr, Euch kennenzulernen, Donna. Man hat mir schon viel von Euch erzählt."

Catterina Athenaïs versank wortlos in die vorgeschriebene tiefe Reverenz; aber sie senkte den Kopf nicht, sondern blickte aufmerksam und kritisch zu dem hochwohlgeborenen Gast empor. Währenddessen durchlitt ihre Tante alle denkbaren Qualen der Verlegenheit; sie begriff mühelos, daß Catterina dem hohen Herrn nicht antworten würde, daß sie in diesem unpassendsten aller Augenblicke eine ihrer gefürchteten Launen hatte, und daß sie die unwiederbringliche Gelegenheit nur dazu benutzen würde, ihrer Familie Schaden zuzufügen. Hin und her gerissen zwischen der Angst, etwas Respektloses zu tun, und dem Verlangen, eine Katastrophe abzuwenden, sagte die Tante daher mit leicht zitternder Stimme: "Eure Hoheit haben sicherlich sagen hören, daß meine Nichte besonders gut Harfe spielt."

Don Raffael entschärfte die Lage, indem er die unangebrachte Zwischenbemerkung mit einem Kopfnicken quittierte. Fürs erste schien er noch bereit, Catterinas sonderbares Benehmen als Schüchternheit zu entschuldigen. Ja, er ergriff sogar ihre Hände und half ihr, sich aus der Reverenz zu erheben — eine recht selten angewandte Geste, die der Betroffene stets als Gunstbeweis betrachten durfte. "Das habe ich in der Tat gehört," bestätigte er, unvermin-dert freundlich; obwohl das Lächeln in seinem Blick schwächer geworden war. "Alle Welt versichert mir, daß Eure Harfenvorträge unvergleichlich meisterhaft sind! Ich hoffe natürlich, daß ich von heute an zu den Glücklichen zählen werde, die das dank eigener Erfahrung sagen können."

Ohne daß sie es gewahr wurde, runzelte Catterina Athenaïs die Stirn. Diese endlosen Aufforderungen, Harfe zu spielen, waren ihr bis auf den Grund ihrer Seele verhaßt. Das hatte soweit geführt, daß ihre Eltern sie meist nur noch durch Drohungen dazu bewegen konnten, an einer Abendgesellschaft teilzunehmen. Wo immer Catterina sich zeigte, hieß es bei der ersten eintretenden Gesprächspause: "Athenaïs wird uns etwas vorspielen, Athenaïs spielt so schön!" Dann wurden Stühle gerückt, ein Kreis von dummen Leuten saß um sie her, Fächer wurden bewegt, Seidenkleider knisterten, die Mädchen kicherten, die Damen tuschelten, die Herren husteten… Sie haßte diese höflich zerstreuten Gesichter, diese gleichgültige Aufmerksamkeit, diesen Zwang, Musik für Leute vorzutragen, die nichts oder herzlich wenig davon verstanden und bestenfalls den Verdacht hegten, daß sie vermittels ihrer Kunst Jagd auf einen vermögenden Ehemann machte.

So war Don Raffaels wohlmeinende Bitte keineswegs geeignet, Catterina für ihn einzunehmen. Sie sah ihn streng und abweisend an; immerhin fand sie sich jetzt genötigt zu antworten, um das drohende Unheil abzuwenden. Eingedenk der Ermahnungen ihrer Eltern unterdrückte sie die unfreundliche Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, und kam sich sehr höflich vor, als sie sagte: "Eure Hoheit möge mir den Widerspruch verzeihen; ich weiß nicht, wer mein Können so sehr gelobt haben soll, bin aber überzeugt, daß er dabei übertrieben hat! Wenn Eurer Hoheit wirklich daran liegt, mich spielen zu hören, so wendet Euch mit diesem Wunsch doch an meine Eltern. Ich spiele vor Gästen nur auf Anweisung meines Vaters."

Jetzt war deutlich Überraschung in Don Raffaels Augen zu lesen. "Ihr spielt nicht gern vor Gästen?" fragte er ungläubig; eine unbedachte Frage, mit der er Catterina zusätzlich reizte. Sie hielt dafür, daß er sie der Ziererei verdächtigte, und wurde noch weit ungnädiger als zuvor. "Gewiß nicht," erklärte sie, indem sie ihre Wahrheitsliebe höher setzte als ihre Höflichkeit und den Gehorsam ihren Eltern gegenüber, "verzeiht mir! Es ist äußerst schmeichelhaft für mich, und ich danke Eurer Hoheit für diese ganz unverdiente Beachtung meiner bescheidenen Fähigkeiten; aber habt Nachsicht mit mir, wenn ich Euch bitte, nicht auf Eurem Wunsch zu beharren, sofern Ihr ihn nur aus Höflichkeit vorgebracht habt."

Inzwischen vermochte der hohe Gast seine Verblüffung halbwegs zu bemeistern. Aber sein Lächeln hatte sich verändert: es wurde aus einer bloßen Geste zu einem Ausdruck echter Empfindung und verriet plötzlich Befangenheit. "Ich bedaure," sagte er, "daß ich Euch durch meine Bitte aufdringlich erschienen bin. Allerdings muß ich gestehen, daß es eher Neugier als Höflichkeit war, was mich dazu getrieben hat; und diese Neugier läßt sich gar nicht so leicht unterdrücken! Aber da Euer Widerwillen so heftig zu sein scheint, werde ich wohl oder übel der Höflichkeit ein Opfer bringen."

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TAURIS
Roman von Pia Frauss
1. König Kophetua/A