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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

1    König
            Kophetua


 
 
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Ihre Verblüffung nahm womöglich noch zu, als sie hinter Don Raffael vier weitere Männer in den Hof treten sah. Der erste war seinem grauen Habit zufolge ein Geistlicher der niederen Ränge, während die übrigen sich als Offiziere der fürstlichen Armee in blauschwarzen Paradeuniformen entpuppten. Weshalb aber der künftige Fürst von Orsino zu einer Unterredung im Hause des Pfarrkirchenkantors Balthasar Benocchio im Hofanzug erschien, in Begleitung seines Hauskaplans und mit einer leibhaftigen Feiertagseskorte, das war ein Rätsel, welches Catterina nicht zu lösen vermochte.

Als sie jetzt, bedenkenlos vor Neugier, das Fenster ganz öffnete, hob Don Raffael den Blick und sah zu ihr hinauf. Er blieb stehen, nahm den Hut ab und machte eine sehr tiefe zeremonielle Verbeugung, so daß Catterina abermals verblüfft war. Nichtsdestoweniger fühlte sie sich durch diese höfische Reverenz doch geschmeichelt. Sie lächelte daher und erwiderte die Verbeugung, so gut das am offenen Fenster ging; und wenn man sie in diesem Moment gefragt hätte, wäre sie ohne weiteres bereit gewesen zuzugeben, daß Raffael de Roccaferrata ein ausgesprochen hübscher und liebenswürdiger junger Mann sei.

Sie beobachtete, wie er zusammen mit dem Geistlichen und einem der Offiziere das Haus betrat, und wie die beiden verbleibenden Offiziere vor der Tür Aufstellung nahmen, als wollten sie jeder weiteren Person den Zugang verwehren. Dann jedoch kam ihr endlich zu Bewußtsein, daß es ein höchst ungehöriges Benehmen war, ihre Neugier derart am offenen Fenster zur Schau zu stellen. Mit schamroten Wangen zog sie sich ins Zimmer zurück, kauerte sich auf dem Bett zusammen, hielt sich die Ohren zu, schloß die Augen und lauschte für eine finstere lange Weile nur noch auf das unbändige Klopfen ihres Herzens. Nichts hätte sie dazu bringen können, sich dem Fenster wieder zu nähern; auch als nach einiger Zeit — und schneller, als sie erwartet hatte — die Geräusche des Aufbruchs aus dem Hof heraufdrangen, blieb sie reglos sitzen.

Sie hatte insgeheim gehofft, daß man sie zu der Unterredung hinzubitten würde, und war doch enttäuscht, als Don Raffael wegging, ohne daß etwas dergleichen geschehen wäre. Erneut wurde sie von Zweifeln befallen; sie ließ die Hände sinken und blickte ratlos und schon halbwegs ernüchtert auf das immer noch offene Fenster. Aber nicht allzulange, nachdem das Hoftor sich hinter dem hohen Besuch geschlossen hatte, hörte Catterina jemand hastig die Stiege herauflaufen und auf ihr Zimmer zukommen. Die Tür wurde aufgerissen; ihre Mutter stand auf der Schwelle. Sie blieb dort stehen, schnappte nach Luft und sah Catterina dabei an, als sehe sie sie zum ersten Mal. "Kind," sagte sie dann, stotternd vor Aufregung und mit einer albern klingenden feierlichen Betonung, "dein Vater bittet dich, jetzt gleich zu ihm zu kommen. Er hat dir etwas sehr Bedeutsames zu sagen."

Durch den Klang der Rede nicht weniger erschreckt als durch den Inhalt der Aufforderung, erhob Catterina sich zögernd, zog umständlich ihr Kleid zurecht und folgte ihrer Mutter in den ersten Stock hinunter. Es war bisher immer ein Gang zu einer Hinrichtung für sie gewesen, wenn sie zu ihrem Vater gerufen wurde, und so hatte sie auch diesmal ein flaues Gefühl im Magen. Schließlich war es durchaus denkbar, daß ihr Vater Don Raffaels Ansinnen für unannehmbar hielt und neuerlich wütend war über die Verlegenheit, in die er durch ihre Schuld geriet. Diese Möglichkeit, die ihr erst jetzt in den Sinn kam, schien ihr umso überzeugender, je mehr sie sich dem väterlichen Schreibzimmer näherte; und als ihre Mutter die Tür des Schreibzimmers öffnete und dann — seltsam genug! — zur Seite trat, um sie, Catterina Athenaïs, vorangehen zu lassen, mußte Catterina alles aufbieten, was ihr an Trotz und Mut zur Verfügung stand, um wenigstens mit dem Anschein der Gelassenheit über die Schwelle zu treten.

Dennoch zuckte sie zusammen, als ihr Vater bei ihrem Eintritt von seinem Sitz aufsprang und mit schweren, heftigen Schritten auf sie zueilte. Sie spürte das Nachgeben der Dielen, auf die er trat, unter ihren Füßen, wich ein wenig zurück und hatte schon halb den Arm gehoben, um ihr Gesicht zu schützen, als er sie an der Schulter packte und mit einer Geste frenetischen Jubels — in seine Arme riß. Seit acht Jahren war dies die erste Umarmung, die er ihr zuteil werden ließ, und noch bevor sie sich von ihrer Überraschung erholte, stellte Catterina fest, daß sie keinen Grund hatte, die Seltenheit solcher Zärtlichkeiten zu beklagen: sie waren nicht wesentlich angenehmer als seine gewaltsamen Überfälle.

"Mein Kind," sagte der Vater schließlich mit einem ergriffenen Tremolo in der Stimme und gab Catterina frei, die in seiner Umklammerung vor Abscheu ganz steif geworden war. Der Umarmung durch den Vater folgte eine ebenso herzliche von seiten der Mutter, aus der Catterina sich mit Schrecken rasch löste. Sie fragte sich allen Ernstes, ob ihre Eltern toll geworden seien. Daß Don Raffaels Besuch um ihretwillen stattgefunden hatte, bewies diese sonderbare Aufführung zur Genüge; indes, es hatte den Anschein, daß beide Eltern sich freuten, und selbst in ihren kühnsten Träumen hatte Catterina Athenaïs sich nicht vorzustellen vermocht, daß sein Ansinnen bei ihnen Freude auslösen könne.

"Du bist verwirrt, mein Kind, wie ich sehe," sagte der Vater salbungsvoll und griff nach ihrer Hand, die er tätschelte. Catterina antwortete nicht und wartete stumm auf die Lösung des Rätsels.

"Erlaube mir, dir erst eine Frage zu stellen," fuhr der Vater fort, "weißt du, aus welchem Grund Don Raffael uns heute aufgesucht hat?"

Catterina zog es vor, nichts zu wissen, und antwortete kurz: "Nein." Und das war, so dachte sie, keineswegs eine Lüge; denn je länger sie die Freude ihrer Eltern sah, umso unwahrscheinlicher kam es ihr vor, daß Raffael de Roccaferrata wirklich mit dem Anliegen zu ihnen gekommen war, von dem sie geträumt und das sie erhofft hatte: und einen anderen Grund für seinen Besuch konnte sie sich nicht vorstellen.

"Dann laß mich dich noch fragen, ob du Don Raffael irgendwann vor dem Fest am letzten Donnerstag gesehen — oder ob du auf diesem Fest ein längeres Gespräch mit ihm geführt hast?"

Catterina erwiderte auf diese Frage wahrheitsgemäß, sie habe Don Raffael auf dem besagten Fest zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen, und gesprochen habe sie mit ihm nichts als einige kurze Sätze bei der Vorstellung, welche von ihrer Tante mitangehört worden seien — man brauche sie nur zu fragen —, und schließlich jene paar Worte während des Musizierens, bei denen ihre Eltern ebenso wie der ganze Saal Zeuge gewesen waren.

Ihre Beteuerungen stießen bei den Eltern auf Verwunderung und Unglauben. "Ist das wirklich alles?" fragte der Vater herzlich. "Wahrhaftig, mein Kind, du brauchst uns nichts zu verheimlichen: wenn du doch mehr mit Don Raffael zu tun gehabt haben solltest, als du zu sagen wagst, sag es uns nur ruhig — wir werden dir ganz gewiß nicht böse sein."

Catterina Athenaïs, die von Herzen wünschte, ihr Vater möge sie nicht in jedem Satz "mein Kind" titulieren — ihr wurde ganz übel davon —, erwiderte mit ungewollter Heftigkeit, es gebe nichts, was die Mühe verlohnte, es zu verheimlichen, und sie könne, wenn ihre Eltern es für erforderlich hielten, auf die Bibel schwören, daß sie mit Don Raffael nicht mehr zu tun gehabt habe als eben berichtet. Sie erwartete, daß man sie wegen ihres scharfen Tons zurechtweisen würde; aber nichts dergleichen geschah.

Ihre Eltern tauschten einen langen, von freudigem Staunen erfüllten Blick. "Es ist ein Wunder," sagte Balthasar Benocchio. — "Ein Wunder," bekräftigte seine Frau. Selten hatte Catterina Athenaοs die beiden so friedlich und einträchtig gesehen.

Als Balthasar Benocchio sich jetzt erneut zu seiner Tochter wandte, ergriff er auch noch ihre zweite Hand. "Mein Kind," sagte er — schon wieder! dachte Catterina —, "es ist etwas ganz Unerhörtes vorgefallen, das weder deine Mutter noch ich uns zu erklären vermögen. Wir hatten gehofft, eine Erklärung von dir zu bekommen; aber wie es scheint, weißt du ebensowenig über die Sache wie wir selbst, ja sogar noch weniger, denn du weißt offenbar nicht —" Er hielt inne und holte tief Atem, bevor er neu ansetzte: "Mein Kind, ich habe die große Ehre — und die ungeheuere Freude —, dir mitzuteilen, daß Raffael de Roccaferrata uns heute aufgesucht hat, um in aller Form — um deine Hand anzuhalten."


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
1. König Kophetua/S