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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

11    Ein Bruderzwist
        im Hause Géttano


 
 
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Es war ein Fehlschlag, der Don Raffael arg zu schaffen machte; aber an diesem Tag gab es noch weitere Umstände, die sein Gemüt verdüsterten. Er war noch immer geschwächt von seinem Experiment, und auch das tagelange Fasten begann ihm zuzusetzen. Obendrein hatte er seit vierzehn Tagen nicht mehr mit einer Frau geschlafen und keine Fechtstunden mehr genommen — Dinge, die sonst entscheidend dazu beitrugen, ihn bei guter Laune zu halten, und auf die er noch weniger gern verzichtete als auf das Essen. Im übrigen war er es müde, sich beständig Eigenschaften als Charakterfehler vorwerfen zu lassen, die, wie er sehr wohl wußte, in weniger friedlichen Himmelsstrichen als höchste Mannestugenden galten, und die Don Francesco selbst für Vorzüge hielt, sofern sie nicht von seinem Bruder an den Tag gelegt wurden.

Was es ihm aber so besonders erschwerte, Don Francescos Vorwürfe auch nur mit dem Anschein von Geduld anzuhören, war die Tatsache, daß er sich völlig unschuldig fühlte. Er hatte nicht im mindesten beabsichtigt, Don Francesco zu verärgern, und was er getan hatte, war in seinen Augen weder ein Zeichen von Undank noch von Verantwortungslosigkeit, wie Don Francesco es zu nennen beliebte. Wenn Catterina, die hilf- und verständnislos neben ihm gesessen war, sich erschreckt und empört über seine Tat äußerte, dann fand er das begreiflich, verzeihlich und sogar — denn für ehrliche Anteilnahme war er noch stets dankbar gewesen — ein wenig rührend. Don Francesco aber hatte von der ganzen Sache erst erfahren, als sie vorüber war. Er hatte gleichzeitig mit dem Bericht von den Ereignissen eine Erklärung erhalten und ebenso die Versicherung, daß keine Gefahr für das Leben seines Bruders bestehe. Was also erzürnte ihn dermaßen? Don Raffael verstand es nicht und fühlte sich ungerecht behandelt.

Als Don Francesco seinen Vortrag daher mit der Feststellung abschloß, Don Raffaels Weigerung, sich dem Sekretär gegenüber zu rechtfertigen, beweise hinreichend, daß es für sein Verhalten keine Rechtfertigung gebe, erhob Don Raffael sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, von den Knien; und tatsächlich war er seit seinem Eintritt in das Zimmer gezwungen gewesen, in dieser ebenso unbequemen wie beschämenden Positur zu verharren, da Don Francesco nicht willens gewesen war, ihm das Aufstehen zu erlauben, ja, zu Beginn sogar eine geraume Weile hindurch ungerührt über seinen Geschäftspapieren gebrütet und mit seinen Sekretären verhandelt hatte, ohne sich um die Anwesenheit seines Bruders zu kümmern. Kurz, Don Raffaels Geduld war erschöpft; er erhob sich also und sagte mit einer leichten Verbeugung: "Ihr habt vollkommen recht, hoher Herr."

Don Francesco bedankte sich ironisch für die Zustimmung, bezeichnete sie aber als entbehrlich und wies dann darauf hin, daß er Don Raffael keineswegs erlaubt habe, sich zu erheben. "Rechnet es zu dem übrigen, hoher Herr," sagte Don Raffael kalt, "denn wenn ich mich wirklich in der Weise, die Ihr mir unterstellt, gegen Euren Willen vergangen habe, ist das allein schon ein unentschuldbares Verbrechen, das die strengste Strafe verdient. Ihr werdet die Maßnahmen ergreifen, die Euch angebracht erscheinen. Erlaubt mir, mich jetzt zurückzuziehen."

Hier informierte Don Francesco ihn mit beginnendem Schrecken davon, daß sein Vergehen gewiß unentschuldbar, aber nicht völlig unverzeihlich sei — daß es jedoch von seiner weiteren Aufführung abhinge, ob und wann ihm verziehen werde. Aber Don Raffael war zu gekränkt, um auf dieses Friedensangebot einzugehen. "Ich bitte weder um Verzeihung noch um Schonung, hoher Herr," sagte er abweisend und stolzierte nach einer weiteren Verbeugung hinaus.

Natürlich vermochte Don Raffael keinen Augenblick lang zu bezweifeln, daß der Fürst nicht im Traum daran dachte, die empfohlenen drastischen Maßnahmen zu ergreifen, sondern daß er statt dessen, wie schon so oft, neuerdings einen oberflächlichen Friedensschluß anstreben würde. Aber Don Raffael selbst war niemals stärker als an diesem Tag der Versuchung ausgesetzt gewesen, die entsprechenden Schritte von sich aus zu tun. Er saß deshalb nach dem Gespräch mit seinem Bruder zwei geschlagene Stunden lang in dem Geschäftszimmer, in dem er Besucher zu empfangen pflegte, starrte mit gefurchter Stirn ins Leere und fand seinen einzigen Trost darin, in Gedanken mehrmals die Abfolge aller Formalitäten und Prozeduren zu rekapitulieren, die nötig waren, wenn jemand seinen Austritt aus der Königsfamilie erklärte; ein ziemlich umfangreiches Kapitel, das ihn längere Zeit beschäftigte, und das außerdem sachlich-trocken genug war, um seine Erregung allmählich zu dämpfen.

Diese Erregung war gewiß berechtigt. In den achtzehn Jahren ihres Zusammenlebens war es nie zuvor geschehen, daß ihm der Zutritt zu Don Francesco verwehrt wurde; und als er die Ungeheuerlichkeit der Maßnahme mit der Geringfügigkeit des Anlasses verglich, ließ ihn das an der Zukunft verzweifeln. Don Francesco würde bald sterben; wenn ihr gegenseitiges Verhältnis sich aber weiterhin in der Weise verschlechterte, wie die derzeitige Lage es erwarten ließ, würden sie auf jeden Fall im Unfrieden auseinandergehen. Welchen Zweck hatte es da, bei Don Francesco auszuharren und ihm einen Dienst zu erweisen, den er nicht zu schätzen wußte?

Schließlich dachte Don Raffael sogar an Catterina und sagte sich, daß es kein zuverlässigeres Mittel gab, künftige Gefahren von ihr abzuwenden, als seinen Austritt aus der Familie. Andererseits aber würde ein solcher Entschluß die Heirat zur Gänze sinnlos machen. Und in diesen zwei Stunden neigte Don Raffael sehr zu der Ansicht, daß seine Heirat unnötig und voreilig gewesen war; denn falls er die Ernennung zum Thronfolger ablehnte, hätte das in erster Linie seinen Ausschluß aus der Familie zur Folge gehabt. In einem solchen Fall wäre er jedoch weitgehend schuldlos an dem Ereignis gewesen; und für kurze Zeit bedauerte er heftig, sich diesen einfachsten aller Auswege durch eigene Anstrengung verbaut zu haben. Nur zögernd meldete seine Vernunft sich zu Wort, um ihn daran zu erinnern, daß ein derartiges Ereignis keinesfalls so friedlich abgelaufen wäre, wie er sich einzureden versuchte, sondern daß es im Gegenteil mit zahlreichen Katastrophen schwanger ging: denn es war nicht vorstellbar, daß Don Francesco sich seinen Erben kampflos hätte rauben lassen.

An diesem Punkt seiner Überlegungen begann Don Raffael auch einzusehen, daß er jetzt nicht in der Verfassung war, eine so schwerwiegende Frage zu entscheiden; er beschloß daher, Don Francesco eine Gnadenfrist und sich selbst eine Bedenkzeit einzuräumen und die Entscheidung erst am letzten Tag ihres Aufenthalts in Atthagra zu treffen. Nachdem er so wenigstens notdürftig mit sich ins reine gekommen war, rief er einen der Sekretäre, um alle weiteren für diesen Tag zugesagten Audienzen auf den nächsten Morgen zu verschieben. Er hatte zuvor Anweisung gegeben, ihn unter keinen Umständen zu stören, und erfuhr deshalb erst bei dieser Gelegenheit, daß inzwischen eine Nachricht von Don Francesco eingetroffen sei: Don Raffael habe gemeinsam mit seiner Gattin an der fürstlichen Abendtafel zu erscheinen, und der Hohe Herr werde in dieser Sache keine wie immer geartete Entschuldigung akzeptieren. Es war ein Befehl, der Don Raffaels Blut abermals in Wallung brachte; er versagte sich aber, ihn als Anlaß für eine neuerliche Gewissenserforschung zu nehmen, und machte sich auf den Weg zu Catterina, um das zweite unerfreuliche Gespräch hinter sich zu bringen, das er sich für diesen Tag vorgenommen hatte.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
11. Ein Bruderzwist im Hause Géttano/S