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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

12    Ganymed


 
 
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Der Empfang, der ihm bei Catterina zuteil wurde, war freilich ein ganz anderer als bei Don Francesco. Catterina, die am Vormittag ihren ersten Toskanischunterricht erhalten hatte und jetzt von einem Professor der Philosophischen Akademie Atthagras in Geschichte unterwiesen wurde, errötete vor Freude, als Don Raffael eintrat, lächelte ihm halb schüchtern, halb beglückt entgegen und erhob sich eilig, um ihre Reverenz zu machen, bevor er sie daran hindern konnte. Die Bereitwilligkeit, mit der sie dies tat, stand in krassem Gegensatz zu ihrer früheren Sprödigkeit und war nicht frei von Hintergedanken: nach einer solchen Reverenz war Don Raffael ihr stets beim Aufstehen behilflich, das heißt, er ergriff sie an den Händen oder am Ellbogen, und manchmal legte er dabei sogar den Arm um ihre Taille. Seit den Ereignissen in Rocca dei Marulani aber empfand Catterina fast jedesmal, wenn Don Raffael sie berührte, heftige Glücksgefühle, die sie bei ihrer vollkommenen Unschuld und Unerfahrenheit für weit geistiger hielt, als sie in Wirklichkeit waren. Sie ließ daher keinen Anlaß, eine solche Berührung herbeizuführen, ungenutzt vorübergehen, und hätte ihn selbst dann wahrgenommen, wenn man ihr bewiesen hätte, daß für jeden einzelnen dieser kostbaren Augenblicke eine Woche von ihrem Leben abgezogen werde.

Don Raffael hatte im Umgang mit Frauen genug Erfahrungen gesammelt und war sich folglich über die Natur solcher Gefühle — die Catterina schon deshalb nicht verbarg, weil sie sie nicht begriff — weit mehr im Klaren als Catterina selbst. Aber so bedenklich er die Entwicklung auch fand, die er in einem solchen Ausmaß weder angestrebt noch erhofft noch überhaupt erwartet hatte: an diesem Tag war er von soviel Freundlichkeit doch äußerst angetan, und dies umso mehr, da Catterina seiner Meinung nach bessere Gründe hatte, ihm zu grollen, als Don Francesco: er hatte ihr am Vormittag, bevor er zu Don Francesco ging, ausrichten lassen, daß er sie bald nach Mittag aufsuchen werde, um mit ihr gemeinsam zu essen, hatte sie bitten lassen, auf ihn zu warten, und kam nun fast drei Stunden später als angekündigt. Und so half er ihr jetzt nicht nur beim Aufstehen, sondern hielt sie danach sogar einige Augenblicke lang in den Armen, küßte sie vor allen Anwesenden auf den Mund und ließ sie erst los, als er merkte, daß die Berührung bei ihm die gleiche Wirkung hervorrief wie bei Catterina.

Danach entschuldigte er sich in aller Form für die Verspätung und bekam, begleitet von einem weiteren Knicks, zur Antwort, Catterina sei zu jeglicher Stunde glücklich, ihn zu sehen — eine Äußerung, die jeder unterwürfigen Ehefrau Ehre gemacht hätte, an deren unschuldiger Aufrichtigkeit Don Raffael indes nicht zweifeln konnte, und die ihn wider Willen bezauberte. Trotz aller warnenden Begleitumstände hielt er daher Catterinas Hand fest, bis sie sich am Tisch niedersetzten, und benahm sich während des ganzen Essens — von dem er nur Catterina zuliebe einige Bissen aß — in einer Weise, die niemand im Ungewissen darüber ließ, daß Catterina derzeit sehr hoch in seiner Gunst stand. Sie tat auch bei Tisch nichts, was seine Freude an ihrer Gesellschaft gemindert hätte, und da sich unter diese Freude vielfältige Gewissensbisse mischten, hatte er nach dem Essen nicht das Herz, unmittelbar von den Dingen zu sprechen, die ihn zu ihr geführt hatten. Er bat sie deshalb, eine Weile auf dem Cembalo zu spielen, aber, so sagte er, nach Möglichkeit nichts, was sie in jüngster Zeit verfertigt habe; denn er habe zuviele Geschäfte im Kopf, um dergleichen jetzt mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu hören.

Catterina verhielt sich abermals wie eine gehorsame Ehefrau und setzte sich sofort ans Cembalo, obwohl sie es an diesem Tag selbst in ihrer freien Zeit noch nie berührt hatte. Sie war der Meinung, daß eine sinnvolle Beschäftigung mit Musik wenigstens jenes Mindestmaß innerer und äußerer Ruhe erforderte, das sogar ihr Vaterhaus noch zu bieten vermocht hatte; an den Salon der Tante dachte sie nun bereits zurück, wie man sich auf stürmischer See an den Hafen erinnert — freilich mit dem Unterschied, daß sie sich bei allem gegenwärtigen Ungemach keine Rückkehr in diesen friedlichen Hafen wünschte. Darum saß sie jetzt auch gefügig am Cembalo und spielte Tänze, Lieder, Auftrittsfanfaren und Chorgesänge des Martin di Cabirezzo, wie sie ihr eben in den Sinn kamen — solange, bis ihr auffiel, daß Don Raffael, während sie spielte, eigenen Gedanken nachhing, die keineswegs erfreulich schienen. Catterina war nichts weniger als ein Beweis für die Behauptung, daß Liebe blind macht: bei ihr war es eher ein Zustand, der sie noch feinfühliger werden ließ — so feinfühlig, daß sie jetzt trotz aller Meisterschaft mehrmals nach den falschen Tasten griff und Mißklänge produzierte, die ihr jedesmal eine Gänsehaut verursachten. Was sie dabei am meisten verstörte, war die Beobachtung, daß Don Raffael die Fehler gar nicht bemerkte; er zuckte mit keiner Wimper und starrte unverändert geistesabwesend durch das Cembalo hindurch. Dies bewirkte, daß ihr Spiel immer langsamer und zaghafter wurde und zuletzt ganz aufhörte.

Es dauerte einige Zeit, bevor Don Raffael die allmählich eingetretene Stille gewahr wurde. Sein Blick kehrte zu Catterina zurück; er sah sie befremdet an und erkundigte sich, warum sie nicht weiterspiele. "Mein Herr," sagte Catterina unglücklich, "ich will Euch gewiß gern jeden Gefallen tun; aber ich kann nicht spielen, wenn Ihr so zornig seid! Es erschreckt mich zu sehr! Womit habe ich Euch verärgert?"

Don Raffael sah noch verwunderter drein als zuvor und versetzte: "Liebste, Ihr müßt Euch täuschen! Ich bin nicht verärgert, und Ihr habt mir nicht den geringsten Grund gegeben, Euch zu grollen." Gleichzeitig wies er sie mit einem warnenden Blick auf die Gegenwart ihrer Hofdamen hin. Catterina entschuldigte sich bestürzt und spielte eilig weiter, freilich, ohne überhaupt noch zu wissen, welche Stücke sie jeweils in Angriff nahm. Aber Don Raffael war von da ab offenbar bemüht, ihr wirklich zuzuhören, und lieferte einen Beweis für seine erhöhte Aufmerksamkeit, als er sie kurz darauf, nachdem sie eben ein neues Stück begonnen hatte, plötzlich unterbrach und fragte, was sie da spiele. Catterina war gezwungen, das Stück noch einmal von vorne zu beginnen, bevor sie antworten konnte, und erklärte dann, dies sei ein Tanz, den sie als Zwölfjährige geschrieben habe, und der niemals veröffentlicht worden sei.

"Und doch kenne ich dieses Thema," sagte Don Raffael. Catterina hatte den Mut, das zu bezweifeln, und erreichte damit, daß er sich neben sie ans Cembalo setzte und das zweite und dritte Thema des betreffenden Tanzes spielte. Er spielte herzlich schlecht, eine Tatsache, die wohl eher auf mangelnde Übung denn auf fehlendes Gehör zurückgeführt werden mußte; aber immerhin war er geschickt genug, die beiden Themen nicht so zu entstellen, daß Catterina sie nicht zweifelsfrei wiedererkannte. Bisher habe er dieses Musikstück als Chorgesang aus einer Tragödie des Titels Der gefangene Prometheus gekannt, erläuterte er; es stamme angeblich von einem jungen Theaterkomponisten namens Evaristo Menardi und sei wirklich noch nicht veröffentlicht worden; er, Don Raffael, besitze jedoch eine Abschrift der Partitur, die der Komponist ihm überlassen habe, und sei im Begriff, sie auf eigene Kosten verlegen zu lassen.

Der Name Menardi war Catterina völlig unbekannt; sie brauchte jedoch nur kurze Zeit, um das Rätsel zu lösen. "Aber das würde ja bedeuten..." sagte sie, überwältigt von der Ungeheuerlichkeit der Schlußfolgerung, die sich ihr aufdrängte.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
12. Ganymed/A