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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

15    Die Multiplikation
                 der Wahrheit


 
 
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Aus all dem wird ersichtlich, daß Don Raffael seinen Bruder zwar sehr gut, aber keineswegs gut genug kannte. So hatte er stets geglaubt, daß Don Francesco für seinen Entschluß einen Anstoß brauche, und daß die Ereignisse nach dem Motto von der Gelegenheit, die Diebe macht, ablaufen würden. Niemals hatte er geahnt, daß der Entschluß längst gefaßt, die Pläne geschmiedet, die Vorbereitungen getroffen und die Folgen mit Akribie kalkuliert waren. Noch weniger hätte er für möglich gehalten, was sich jetzt als Zweck und Ziel des Projekts herausstellte: die Absicht, in die internationale Politik einzutreten — und obendrein, indem man einen Krieg gegen eine zwar angeschlagene, aber immer noch furchteinflößende Seemacht vom Zaun brach! Don Raffael unterschied sich in der Betrachtung dieser Frage nicht von seinen Landsleuten: jeder willentliche Verstoß gegen die Abschließung lag weit außerhalb seines Horizonts, und er hatte sich solch verbrecherische Pläne nicht einmal vorstellen können, um sie Don Francesco zuzutrauen.

Kein Wunder also, daß Don Francescos Enthüllungen und Forderungen ihn in einen Zustand traumwandlerischen Schreckens versetzten. Die Seeleute des Fürsten pflegten solche Gemütsverfassungen mit der Bemerkung "ihm ist zumute wie einem Zwieback, der bröselt" zu beschreiben, und während Don Raffael neben dem fürstlichen Schmerzenslager auf sein Stichwort wartete, ging ihm seltsamerweise gerade dieser abgegriffene plebejische Scherz ständig durch den Kopf, vermischt mit einem besonders abscheulichen Wort aus der Bibel: "Armageddon". Jetzt, nachdem die Verhandlung beendet und die Entscheidung gefallen war, hüllte die Erschöpfung ihn in einen dichten Nebel der Gleichgültigkeit. Er wußte, daß sein Leben die schlimmstmögliche Wendung genommen hatte, aber er ertrug diese Gewißheit als wahrer Stoiker und betrachtete seine Lage vorerst mit den gleichen Gefühlen, mit denen eine Wasserleiche den Strand betrachtet, an den die Wellen sie geworfen haben.

Selbst die Beleidigungen, die der Fürst so freigebig über Laura Asturini ausgoß, entlockten Don Raffael nur ein mechanisches Verziehen der Mundwinkel. Es war wirklich sinnlos und unbegreiflich, daß Don Francesco sich eines kurzfristigen Vergnügens halber die Feindschaft einer Schwester einhandeln wollte, die ihm bisher in den Grenzen ihres beschränkten Verstandes treu ergeben gewesen war; ja, noch unbegreiflicher war, wie er Vergnügen daran finden konnte, sie derart höhnisch in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Und natürlich würde Don Raffael als Verwalter dieses Vermächtnisses von Spott und Hohn zu allen anderen Übeln hinzu nun auch noch den schwesterlichen Haß erben. Es war ein höchst ärgerlicher Vorfall, und an jedem anderen Tag wäre Don Raffael auch entsprechend verärgert darüber gewesen; für den Moment jedoch vermochte die zusätzliche Verwicklung zwar noch seine Gesichtsmuskeln, aber nicht mehr sein Gemüt zu bewegen.

Noch weniger quälte ihn die ungelöste Frage, ob er sich richtig entschieden hatte. Das konnte schließlich nur die Zukunft zeigen. Fürs erste hatte er gehandelt wie ein Mensch, der bemerkt, daß das Dach über seinem Kopf in Brand geraten ist. In einem solchen Fall hat es wenig Sinn, sich ins Bett zu legen und zu verlangen, daß das Feuer Rücksicht darauf nehmen möge. Ein vernunftbegabtes Wesen wird es folglich ohne lange Überlegung vorziehen, einen zufällig erreichbaren Eimer Wasser über dem Mobiliar auszugießen, diejenige Kostbarkeit zu packen, welche ihm am unverzichtbarsten scheint, und damit durch die erstbeste Tür ins Freie zu laufen. Gerade das hatte Don Raffael getan; in Zukunft konnte er nach weiteren Rettungsmöglichkeiten Ausschau halten oder mitansehen, wie das Gebäude vor seinen Augen abbrannte, wobei er obendrein in die Verlegenheit geraten mußte, glaubwürdig vorzutäuschen, daß er, wie man es von ihm verlangte, Öl in die Flammen goß. Aber selbst diese unerfreuliche Alternative bekümmerte ihn jetzt nicht mehr. Und weil es sich nun einmal nicht vermeiden ließ, leistete er den ersten falschen Eid seines Lebens und vergoß Ströme von falschen Tränen, ohne im geringsten über sich selbst zu erschrecken.

Obwohl Don Raffaels Lage nach dem Ende des Gesprächs ohne Übertreibung beklagenswert genannt werden darf, hatte er doch zumindest einen kleinen Vorteil für sich: er ging nicht als der Getäuschte aus dem Streit hervor. Das war eine Rolle, die Don Francesco vorbehalten blieb. Denn natürlich war bei diesem Gespräch soviel gelogen worden wie nur je bei einer sogenannten rückhaltlosen Aussprache, und natürlich gab Don Raffael dabei kein Versprechen, das er zu halten beabsichtigte. Beide Brüder hatten gemeinsam an dem Lügennetz gewoben, aber Don Francesco war der einzige, der sich darin verfing.

Bis zu einem gewissen Grad mochte es daran liegen, daß Don Raffaels Vorgehen wirklich schwer durchschaubar war. Er hatte auf geraden Wegen ein krummes Ziel verfolgt, und getreu seinem Grundsatz, daß, wer überzeugend lügen wolle, sowenig und so spät wie möglich von der Wahrheit abweichen dürfe, war seine Lüge ein Mosaik, dessen einzelne Steinchen insgesamt aus stoß- und trittfester Wahrheit bestanden. Während des ganzen Gesprächs hatte er sich höchstens durch Unterlassungen an diesem heiligen Prinzip versündigt; er hatte Ansichten geäußert, die wirklich die seinen waren, hatte Gefühle gezeigt, die er tatsächlich empfand, und sich nur auf solche Fakten berufen, die er selbst nicht in Zweifel zog. All dies hatte er aber getan, ohne die Lüge aus dem Blick zu verlieren, die er sich zum Ziel gesetzt hatte, nämlich, Don Francesco einen Sinneswandel glaubhaft zu machen, der vollkommen unwahrscheinlich war, der nicht stattfand, und der niemals stattfinden konnte.

Dieses Ziel war nun erreicht; aber wenn man Don Francesco nicht schmeicheln will, muß man darauf hinweisen, daß es mit bedeutend weniger Aufwand genauso sicher erreicht worden wäre. Don Francesco wurde getäuscht, weil er getäuscht werden wollte. Die Wahrheit ist ja ganz allgemein ein Handelsartikel von zweifelhaftem Wert, dessen Preis man nicht niedrig genug veranschlagen kann, und Don Francesco ging an diesem Tag so verächtlich an ihr vorüber wie jene unübersehbare Mehrzahl von Sterblichen, die keinen Unterschied zwischen Glauben und Wissen macht: er wollte sie nicht einmal geschenkt haben. So hatte er die Vertrauensfrage mit Vorbedacht beiseite geschoben, als Don Raffael sie zur Sprache brachte, und war entschlossen, sie auch in Zukunft nicht zu erörtern. Erstens war es seine Gepflogenheit, ein Geschäft nicht mehr in Zweifel zu ziehen, sobald es unter Dach und Fach war, zweitens konnte es ihm nicht viel nützen, Don Raffaels Entscheidung zu mißtrauen, und drittens hielt er die Frage, ob diese Entscheidung eine oberflächliche oder eine tiefempfundene sei, für wenig bedeutungsvoll. Zur gegebenen Stunde genügte ihm ein bloßes Lippenbekenntnis. Er hatte seinen Bruder auf den rechten Weg gebracht, das allein zählte, und wenn es etwas gab, woran Don Francesco nicht zweifelte, so war es seine Fähigkeit, Don Raffael auf der einmal eingeschlagenen Bahn festzuhalten.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
15. Die Multiplikation der Wahrheit/S