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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

22    Zerreissende
                    Netze


 
 
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Bis zu dem Augenblick, wo er sich von der Dame verabschiedete, hatte Don Raffael keine Vorsicht noch Rücksicht außer Acht gelassen, welche sein Verhältnis zu Don Francesco von ihm verlangte. Erst in den letzten Stunden seines Aufenthalts wich er von dem geraden Weg ab. Er versammelte die gesamte Besatzung im großen Hof der Festung und verkündete, daß er drei oder vier Soldaten mit nach Corvalla nehmen werde — zwei von ihnen mit der Aussicht auf baldige Beförderung. Da er sich aber bei der Entscheidung nicht nur auf Empfehlungen verlassen wolle und der Zeitmangel ein gründliches Aktenstudium unmöglich mache, werde er die Sieger eines Wettbewerbs auswählen, in dem die besten Armbrustschützen ermittelt werden würden. Jeder, der sich berufen fühle, dürfe daran teilnehmen.

Der Vorschlag fand begeisterte Zustimmung und der Wettbewerb regen Zulauf: siebenundsechzig Soldaten kämpften um den Aufstieg in Don Raffaels Leibwache. Glücklicherweise blieben die kostspieligen Armbrustbolzen wiederverwendbar, nachdem sie die aus Stroh geflochtenen Zielscheiben durchschlagen hatten; andernfalls hätte die Veranstaltung ein spürbares Loch in das knapp bemessene Budget der Festung gerissen. In dem allgemeinen Bolzenhagel zeichneten sich schließlich acht Soldaten aus, die bei allen Versuchen und aus jeder möglichen Entfernung unfehlbar ins Schwarze trafen; das waren aber leider weit mehr, als gebraucht wurden.

Da endlich tat Don Raffael einen Schritt aus dem Schatten der Unterwerfung heraus und nahm ein Experiment in Angriff. "Nun gut," erklärte er, "dann werden wir die Bedingungen jetzt ein wenig verschärfen." Er ließ sich ein Paket Spielkarten bringen, zog eine Karte aus dem Stapel, stellte sich vor eine der Zielscheiben und hielt die Karte eine Handbreit von seinem Ohr entfernt in die Höhe: er werde nur jene Männer mit nach Corvalla nehmen, denen es gelinge, ihm die Karte aus der Hand zu schießen. Und da alle acht Schützen vor dem Spiel zurückschreckten, drohte er damit, es jedem einzelnen von ihnen zu befehlen, wenn keiner sich freiwillig meldete. Nun, drei der Männer fanden sich zuletzt doch zu einem Versuch bereit, und zwei mochten ihn danach sogar aus größerer Entfernung wiederholen. Alle fünf Schüsse trafen das Ziel, ohne Don Raffael auch nur an der Hand zu verletzen. Das war zwar kein Wunder, aber doch ein Erfolg, an den Don Raffael selbst nicht vollständig geglaubt hatte: er war immerhin vorsichtig genug gewesen, die Karten in der linken Hand zu halten. Am Ende des Wettbewerbs gratulierte er erst sich selbst und dann den drei Soldaten: sie hätten nicht nur Geschick, sondern auch Mut und Kaltblütigkeit bewiesen, und gerade die letzteren Eigenschaften seien das, was er von seinen Offizieren in jeder Lage erwarte; und jetzt sollten sie gehen und ihre Siebensachen zusammenpacken, denn er wolle sich spätestens in einer Stunde auf den Heimweg machen.

Aber sein Experiment war damit noch nicht beendet: eigentlich begann es erst jetzt. Er ließ die im Hof versammelte Besatzung nicht abtreten und sogar alle übrigen Bediensteten zu der Menge hinzubitten, Verwaltungsangestellte ebenso wie Küchenjungen. Vor dem vollzähligen Publikum hielt er eine kleine Ansprache, in der er an Don Francescos Blutsturz erinnerte. Er bedauere sehr, sagen zu müssen, daß ein brüderliches Zerwürfnis diese gefährliche Krise ausgelöst und den Fürsten fast ums Leben gebracht hatte. Ursache sei nicht zuletzt die Angst des Fürsten um sein, Don Raffaels, Leben gewesen; denn der Fürst glaube, daß er sich allzu oft unbesonnen in Gefahr begebe. Leider habe er das eben jetzt wohl wieder getan. Zwar sei dabei wie erwartet kein Schaden entstanden. Damit dieser Schaden aber nicht nachträglich entstehe, verlange er von allen Anwesenden einen feierlichen Eid des Inhalts, daß Don Francesco niemals von diesem Wettschießen erfahren werde — denn es sei durchaus denkbar, daß er aus Aufregung darüber einen weiteren Blutsturz erleiden könne. Jeder der Anwesenden müsse sich verpflichten, mit niemandem über den Wettbewerb zu sprechen, der ihn nicht mitangesehen habe, und Don Francesco weder mündlich noch schriftlich davon zu berichten. Sollte der Fürst je davon erfahren, werde er, Don Raffael, die Schuldigen zu finden wissen: hier ließ er eine Bibel holen, legte die Hand darauf und schwor, daß er keinem Menschen jemals verzeihen werde, der Don Francesco durch einen Bericht von dem Ereignis in Gefahr bringe.

Die letzte Stunde seines Aufenthalts verging denn auch mit der Entgegennahme von Verschwiegenheitsgelöbnissen. Niemand verweigerte den Eid. Einer nach dem anderen defilierten die Soldaten, Offiziere, Sekretäre und Bediensteten an Don Raffael vorbei, legten ihre Hand auf die Bibel und sagten das Sprüchlein "ich schwöre es" auf, und Don Raffael achtete darauf, daß sie dabei nicht etwa die Finger der linken Hand verkreuzt hielten. Alle, die im Verdacht standen, Berichte für den Fürsten zu schreiben, mußten anschließend noch ausdrücklich versprechen, diese Berichte Don Raffael vorzulegen oder zuzuleiten, ehe sie dem Fürsten übergeben werden konnten. Danach blieb nichts mehr zu tun, als das Urlaubsgesuch abzusegnen, das der Festungskommandant inzwischen aufgesetzt hatte — er bat darin, wie Don Raffael es von ihm verlangte, um einen zehntägigen Neujahrsurlaub, der am Tag nach Weihnachten beginnen sollte —, und einen der beiden ranghöchsten Offiziere zum Stellvertreter zu ernennen.

Trotz des eher enttäuschenden erotischen Zwischenspiels trat Don Raffael die Heimreise in einer beinahe euphorischen Stimmung an. Er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Die Vorbereitungen waren im großen und ganzen abgeschlossen; selbst das Wagnis, Gianfrancesco da Mertola auf die Verräter unter den Wachoffizieren anzusetzen, hatte sich über alles Erwarten hinaus bezahlt gemacht. Als sie aufgestellt wurde, hatte diese Falle noch vorwiegend dem Köder selbst gegolten; aber inzwischen waren, wie es schien, die richtigen Ratten darin gefangen worden, und wenn vierzehn Tage lückenloser Überwachung ein zuverlässiges Bild liefern konnten, dann durfte Gianfrancesco da Mertolas Vertrauenswürdigkeit nun als bewiesene Tatsache gelten.

Verbunden mit dem erfolgreichen Besuch in Horena waren somit alle Voraussetzungen für das geplante Abenteuer geschaffen, und Don Raffael beschloß erst jetzt endgültig, es wie geplant durchzuführen. Viel blieb ja nicht mehr zu tun. Morgen, am Weihnachtsfeiertag, würde er noch ein paar Worte mit dem Stadthauptmann wechseln, und bei dem Ritt von Sant'Olivero nach Corvalla mußte er zwei der neuen Wachsoldaten instruieren. Um herauszufinden, welche das sein würden, bestellte er einen Imbiß in seine Kajüte, sobald er das Schiff betreten hatte, und lud alle drei Männer dazu ein. Er begann das Gespräch damit, auch sie zur Diskretion zu verpflichten, und verschaffte sich dann durch gezielte Fragen über ihre Ausbildung, bisherigen Einsatzorte und Aufgaben Einblick in ihre Wesensart. Nachdem die Mahlzeit beendet und die Entscheidung gefällt war, kündigte er an, daß er sich bis zur Ankunft in Sant'Olivero ausruhen wolle. Er ließ alle Lichter in der Kajüte löschen und saß danach lange bewegungslos im Dunkeln. Keine innere Unruhe zwang ihn jetzt noch zum Umherlaufen.

Endlich stand er doch auf, suchte und fand einen Kasten mit Pistolenkugeln, stellte ihn geöffnet auf das Sims unter einem der Heckfenster, entriegelte das Fenster daneben und zog das gefälschte Geständnis aus seinem Wams. Als er dem Festungskommandanten vorschlug, das Dokument zu behalten oder eigenhändig zu vernichten, hatte dieser sich voll Ingrimm geweigert: er erkenne den Vertrauensbeweis und fühle sich dadurch geehrt, ziehe es aber vor, sich nicht noch einmal die Hand an dem verräterischen Machwerk zu verbrennen. Das war eine Entscheidung, die Don Raffael gerne guthieß. Er hatte die anderen beiden Exemplare ins Feuer geworfen: das letzte würde jetzt im Wasser enden. Die Kajüte befand sich, ein wenig vorspringend, direkt über dem Heck des Schiffes; man mußte nicht befürchten, daß Gegenstände, die aus dem Fenster fielen, auf einem Deck landeten. So brach Don Raffael die Reste der Siegel vom Titelblatt, bemüht, keine Brösel auf den Boden zu streuen, und warf die Bruchstücke ins Meer. Bedächtig und genußvoll zerriß er dann das Dokument, Blatt für Blatt, beschwerte die Papierfetzen, indem er jeweils ein bißchen Munition darin einwickelte, und vertraute sie gleichfalls der Verschwiegenheit des Meeres an, eine Papierkugel nach der anderen, solange, bis Don Francescos Druckmittel aufgehört hatte zu existieren. Es hatte seinen Zweck ja auch vollauf erfüllt — freilich in einer Weise, die Don Francescos Plänen kaum dienlich sein würde.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
22. Zerreissende Netze/S