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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Kaufmannssorgen


(Auszug aus Kap. 22)


 
 
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Lösungen zu finden, war in den vierzehn Tagen vor Weihnachten Don Raffaels Lebenszweck. Alles, was er tat, stand unter diesem Vorzeichen; er hatte kaum einen Gedanken, der nicht damit zusammenhing. Fern von jedem Kaminfeuer brach ihm vor fiebriger Aufregung der Schweiß aus, und selbst wenn er es versucht hätte, hätte er nicht länger als die drei oder vier Stunden schlafen können, die er sich pro Nacht dafür gönnte. Sein Plan war an jenem Abend entstanden, als Catterina verlangte, ihren Adoptivvater besuchen zu dürfen; aber unseligerweise glaubte Don Raffael von jeher nicht an Pläne und noch viel weniger an die Möglichkeit ihrer reibungslosen Durchführung, und was ihm bestürzend einfach erschienen war, als es ihm eben einfiel, kam ihm zunehmend vertrackt und aussichtslos vor, je länger er daran herumtüftelte. Dennoch verfolgte er diesen Plan in allen Einzelheiten und Verästelungen weiter; denn ein anderer wollte sich nicht einstellen, und bald war auch die Zeit zu knapp, um noch das Pferd zu wechseln. Zuletzt tröstete er sich damit, daß er sich, selbst wenn alles fehlschlug, zumindest nicht würde vorwerfen müssen, untätig einer Entwicklung zugesehen zu haben, die er vielleicht hätte aufhalten können; er arbeitete nur noch voll Ungeduld auf den Tag der Ausführung hin, und seine Entschlossenheit wuchs nach einem Gespräch mit Valentin Rascari.

Am 11. Dezember war Don Francescos Anspruch auf das Kupfermonopol durch eine königliche Verlautbarung in der Börse von Valanta bekanntgemacht worden. Das hatte zu sofortigen Krisensitzungen des Kleinen und Großen Rates der Stadt geführt, wobei freilich kaum Ergebnisse erzielt wurden — genaugenommen nur ein einziges, dem eine Tat folgte, nämlich der Beschluß, eine fünfköpfige Kaufmannsdelegation nach Corvalla zu entsenden, damit sie feierlich Protest gegen diesen neuesten Handstreich des Unersättlichen einlege. Valentin Rascari kam als Mitglied der besagten Delegation nach Corvalla; ein Anzeichen dafür, daß seine Heimatstadt ihre Hoffnung weniger auf die Wirkung formeller Protestnoten als vielmehr auf Geheimverhandlungen mit Don Raffael setzte. Und Don Raffael ... nun, wie fühlt sich ein Mann, der seine Machtlosigkeit nicht nur erkennen, sondern obendrein auch noch öffentlich eingestehen muß? Er kochte vor Wut. Als er die Kaufleute in seinen Amtsräumen empfing, war er genötigt, sie mit dem Ausdruck seines Bedauerns abzuspeisen und eine haarsträubende Behauptung aufzustellen: er gehe mit Don Francescos Politik ganz und gar konform. Wenn er die Mitglieder der Delegation aber bei Banketten und Bällen in der Stadt traf, konnte er sie nur so vorsichtig wie möglich um Geduld anflehen und Anspielungen auf das hochnotpeinliche Versprechen fallen lassen, das es ihm verwehre, seinem Bruder offen entgegenzutreten. Selbst dabei — oder wenn er gar das Wort "vorläufig" gebrauchte — hielt er sich für unverantwortlich tollkühn: man konnte schließlich nie wissen, auf welchen Wegen und in wessen Formulierung solche Äußerungen bei Don Francesco anlangten!

Trotzdem brachte er es nicht über sich, Rascari ohne eine offene Aussprache nach Valanta zurückzuschicken, und lud ihn deshalb für den Nachmittag vor der Abreise zu einem Ausritt nach Baia'Ncî ein: wenn man bei nicht allzu ungünstigen Windverhältnissen genügend Abstand zur Eskorte hielt, bot zumindest der Hin- und Rückweg Gelegenheit für unbelauschte Gespräche. Das konnte sich freilich auch Don Francesco sagen; deshalb brauchte es abermals einen Vorwand, und die Akte, die noch immer in Don Raffaels bestverschlossenem Aktenschrank lagerte, kam da gerade recht. Nach dem gemeinsamen Mittagessen und kurz vor dem Aufbruch führte Don Raffael seinen Gast daher in das Aktenzimmer und überreichte ihm die Anklageschrift, die ihn der Falschmünzerei bezichtigte.

"Hier ist ein Schriftstück, für das ich keine Verwendung habe, und das ich Euch zu behalten bitte," sagte er, "aber es wäre mir trotzdem lieb, wenn Ihr es hier und jetzt kurz durchsehen würdet."

Valentin Rascari las die ersten beiden Seiten und überflog die übrigen Blätter mit einer Kaltblütigkeit, die Don Raffael Bewunderung abnötigte. Nach kurzer Zeit klappte er die Mappe zu und bemerkte: "Ich habe, glaube ich, bereits verstanden, worum es sich handelt. Wünscht Ihr eine Erklärung von mir?"

Don Raffael warf einen sprechenden Blick auf den Untersekretär, der fünf Schritte von ihm entfernt an einem Tisch Akten sortierte. "Nicht hier," versetzte er, "es ist besser, wenn wir gleich aufbrechen. Ihr könnt es mir unterwegs erklären."

Tatsächlich nahm er sich Zeit, Rascaris Erklärung anzuhören, obwohl sie nichts enthielt, was er nicht ohne jede Nachforschung längst erraten hatte. Rascaris Fall war eine Folge der Staatsklugheit, welche die Stadt Valanta darauf verwandte, sich das Schicksal ihrer einstigen Konkurrentin Corvalla zu ersparen. Reich zu werden, war für viele Bürger Valantas kein unerfüllbarer Wunschtraum; sobald sie aber zu reich wurden, hatten sie Grund, sich Sorgen zu machen. So wachten mehrere dem Großen Rat verantwortliche Behörden ständig und unabhängig voneinander über alle offiziell beurkundeten Geschäftsabschlüsse und Verträge, um daraus die Vermögensverhältnisse der beteiligten Parteien zu errechnen. Das spielte nicht nur bei der Einstufung der Bürger in bestimmte Steuerklassen eine Rolle; alle zwei Jahre, bevor die knapp zweitausend Mitglieder des Großen Rates einundneunzig Männer aus ihren Reihen in den Kleinen Rat wählten, verglichen sie in mehreren — stets sehr dramatischen — Sitzungen die Vermögenserhebungen der Behörden, um daraus eine Liste der dreißig reichsten Bürger zu erstellen, denen dann gewisse Einschränkungen auferlegt wurden, wie etwa die Verpflichtung zu wohltätigen Stiftungen oder das Verbot, einen Universalerben zu benennen: nur ein Drittel ihres Vermögens durfte an ein- und dieselbe Person weitergegeben werden. Besonders schlimm aber traf es die zehn Spitzenreiter der Liste: gemeinsam mit allen Verwandten ersten und zweiten Grades wurden sie für die nächsten zwei Jahre vom Zugang zum Kleinen Rat und von allen politischen Ämtern ausgeschlossen.

"Insgesamt ist es gewiß eine sehr weise und sehr dauerhafte Einrichtung," bemerkte Rascari, "denn natürlich will keiner selbst auf dieser Liste landen; aber jeder kämpft darum, seine Konkurrenten und Gegner hineinzubringen — und die Mitglieder des Kleinen Rates haben noch stets großen Gewinn daraus gezogen." Das letztere war eine Anspielung auf die allseits bekannte Tatsache, daß die zehn ausgeschlossenen Familien, um ihre Interessen zu wahren, Angehörige des Kleinen Rates zu bestechen pflegten — ein Mißstand, den man in Valanta mit Gleichmut duldete: schließlich war auch das ein Weg, übermäßig angehäuftes Geld unter die Leute zu bringen. Im übrigen sind Gesetze und Verordnungen immer ein Netz aus Schlupflöchern, in dem seltsamerweise nur die kleinen Fische hängenbleiben, und so bot auch die amtliche Wohlstandsskala der Stadt Valanta weniger ein Bild tatsächlicher Vermögensverhältnisse als vielmehr eines ihrer aktuellen Macht- — oder besser: Ohnmachtstrukturen. Daß Valanta ein Ort der Zwiste, Rivalitäten, Parteifehden und politischen Grabenkämpfe geblieben und niemals durch die Alleinherrschaft einer einzelnen Familie befriedet worden war, konnte nicht dieser dubiosen Liste zu verdanken sein.

Valentin Rascari war der älteste Sohn eines Mannes, der zwölf Jahre lang Mitglied des Kleinen Rats und vier Jahre lang Stadtkämmerer gewesen war und sich dabei vom sechsundzwanzigsten auf den neunten Platz der Liste emporbereichert hatte. Dieser Tatsache verdankte Rascari es, daß er schon zu Lebzeiten seines Vaters in den Genuß seines Erbes gekommen war: zum frühestmöglichen Zeitpunkt — an seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag — war ihm jenes Drittel des väterlichen Vermögens übereignet worden, das er der städtischen Verordnung gemäß erben durfte. Sein Vater war dadurch in der Liste um viele Plätze zurückgefallen; aber den Aufstieg des Sohnes konnte hinfort nichts mehr bremsen. Valentin Rascari hatte Geld geerbt, Geld geheiratet und Geld erworben; aber er war nicht nur finanziell erfolgreich gewesen. Nachdem er drei Jahre zuvor erstmals in den Kleinen Rat gewählt worden war, hatte er sich einer königstreuen Fraktion angeschlossen, die gerade in jüngster Zeit Oberwasser gewann, und war schnell zu deren Wortführer avanciert. Dabei hatte er sich aber, naturgemäß, zahlreiche Feinde im nach wie vor tonangebenden republikanischen Lager geschaffen. Wie nicht anders zu erwarten, war seine Wiederwahl bereits im Vorjahr in Frage gestanden: nur um Haaresbreite hatte er den zehnten Platz der Vermögensliste verfehlt. Und da es nicht Kaufmannsart ist, erworbenes Geld in finsteren Truhen vor sich hin schmoren zu lassen, kämpfte er jetzt auf Dauer mit einem großen Problem.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
22. Zerreissende Netze M