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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Aufschlüsse
    und Einblicke


(Auszug aus Kap. 9)


 
 
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"Ihr tut es wirklich nicht aus Mitleid?" fragte Catterina noch einmal. Sie insistierte auf diesem Zweifel, weil die Erklärungen, die sie bisher gehört hatte, ihr weniger überzeugend vorkamen als das Nächstliegende; und die nächstliegende Erklärung hätte ihr wohl auch am besten gefallen.

"Mitleid!" wiederholte Don Raffael, erstaunt und ein bißchen verächtlich. "Das ist genau der Vorwurf, den Don Francesco mir schon seit Jahren macht — er findet nichts begreiflicher, als daß ich all die Dinge, die er nicht begreift, aus fehlgeleiteter Menschenliebe tue! Nun ja ... natürlich bedauere ich diese armen Teufel, von denen die meisten in Wirklichkeit nichts oder jedenfalls nichts Schlimmes verbrochen haben; aber obwohl Don Francesco mir das nicht glaubt, bin ich in dieser Frage doch derselben Meinung wie er: daß ich es mir nicht leisten kann, solche Anwandlungen zur Grundlage meines Handelns zu machen. Mitleid! Wo finge das an, und wo hörte das auf? Fragt einen Chirurgen, ob ihm die Kranken leid tun, an denen er herumschneidet: er wird Euch sagen, daß er sein Geld damit verdient, sie zu behandeln, und daß er es nicht übers Herz brächte, ihnen zusätzlich weh zu tun, wenn sie ihm leid täten." Er sah Catterina nicht ohne Neugierde an. "Hattet Ihr denn Mitleid?" fragte er.

"Ja," sagte Catterina und hob endlich wieder einmal voller Kampflust das Kinn, da sie sich vollkommen im Recht fühlte. "Selbstverständlich hatte ich das! Und ich sehe nicht ein, warum ich mich dafür schämen sollte!"

"Niemand verlangt, daß Ihr Euch dafür schämt," versetzte Don Raffael lachend, "zumindest solange Ihr nicht auf den Gedanken kommt, Don Francesco von Eurem Mitleid zu erzählen! Don Francesco fürchtet das bloße Wort, und die Sache selbst natürlich noch viel mehr."

"Das scheint mir durchaus verständlich," bemerkte Catterina kühl. Sie hatte endlich die rettende Insel der moralischen Entrüstung erreicht, und die Gewißheit, festen Boden unter den Füßen zu haben, gab ihr Mut. "Nach allem, was Ihr mir erzählt habt, kann es ja wohl auch gar nicht anders sein."

Don Raffael schüttelte zweifelnd den Kopf. "Es scheint, daß ich Euch jetzt ein völlig falsches Bild von Don Francesco vermittelt habe; aber das kommt wohl davon, daß Ihr ihn nicht lange genug kennt. Ich versichere Euch, als ich diese Dinge erfuhr, da wollte ich ebensowenig daran glauben, wie Ihr an die Unterschlagungen Eures Adoptivvaters glauben wollt! Ich war vor Staunen wie betäubt und wiederholte ein ums andere Mal: nicht Don Francesco! Don Francesco bringt es nicht übers Herz, so etwas zu tun! Und in der Tat würde niemand, der jahrelang in Don Francescos Nähe gelebt hat, auf Anhieb an dergleichen glauben wollen. Don Francesco ist wirklich alles andere als ein blutgieriger Despot, der bedenkenlos Leute über die Klinge springen läßt; so einfach ist das gewiß nicht! Die Anstellungen in seinem Haushalt und in seinen Kontoren etwa sind nicht nur wegen der vergleichsweise hohen Gehälter so begehrt, sondern auch deshalb, weil es dort jedem Vorgesetzten bei Strafe der Entlassung verboten ist, einen Untergebenen, sei es auch nur ein Lehrling, zu schlagen. Ihr könnt mir glauben, kein Kaufherr und erst recht kein Adliger ist in dieser Frage ähnlich zimperlich wie Don Francesco! Das Wohl der Menschen, die um ihn herum leben, liegt ihm außerordentlich am Herzen, und wenn Ihr ihm etwas sehr Bösartiges antun wollt, das ihn veranlaßt, Euch jeden erfüllbaren Wunsch zu erfüllen, müßt Ihr nur anfangen, unter seinen Augen zu leiden! In den Gängen von Orsino lief ihm dereinst eine Dienstmagd über den Weg, die vor Zahnschmerzen weinte. Don Francesco, der niemand weinen sehen kann, hielt sich nicht nur damit auf, sie nach der Ursache ihres Kummers zu befragen, sondern ließ auch, da das Übel sich als schwer behebbar erwies, zwei Spezialisten aus Atthagra kommen; und insgesamt hat er ein Heidengeld dafür ausgegeben, die Tränen eines völlig bedeutungslosen Wesens zu trocknen, an dem ich einfach vorbeigegangen wäre! Ich kenne keinen gutmütigeren und friedfertigeren Menschen, und bevor er sich entschließt, sich einem Untergebenen oder Angehörigen gegenüber wirklich hartherzig zu verhalten, muß der Betreffende ihm sehr triftige Gründe dafür geliefert haben."

Er lächelte Catterina an, die verwundert und ungläubig dreinsah, und sprach noch etwas eindringlicher weiter. "Nein, wirklich, Don Francesco ist kein Unmensch — aber er hat das Geld, die Leute zu bezahlen, die es an seiner Stelle sind! Er hat gewiß niemals in seinem Leben freiwillig eine Waffe in die Hand genommen, und der Anblick von menschlichem Blut verursacht ihm Magenkrämpfe; aber es gibt nichts, was er nicht imstande wäre zu unterschreiben, wenn er überzeugt ist, daß er einen Vorteil davon hat! Wenn er das Mitleid so sehr fürchtet, dann nur deshalb, weil er weiß, wie anfällig er dafür ist, und weil er noch besser weiß, daß solche Anwandlungen sehr kostspielig und sehr schlecht fürs Geschäft sind. Deshalb verschanzt er sich hinter seinem Schreibtisch und seinen Sekretären und empfängt keine Bittsteller — glaubt mir, von den wenigen, die im Lauf seiner Amtszeit zu ihm vorgedrungen sind, ist keiner ungetröstet weggegangen! —, und es fiele ihm nicht im Traum ein, das Gefängnis von Alvisia oder eine seiner Schiffswerften zu besichtigen. Und auf seinem Schreibtisch sehen die Dinge alle erstaunlich harmlos aus! Wenn zum Beispiel eine der Schiffswerften ihr Jahressoll nicht erfüllt, wird Don Francesco dem leitenden Beamten gewiß nicht befehlen, die Gefangenen nach Möglichkeit ein bißchen mehr zu schinden; er wird ganz einfach das Gehalt dieses Beamten kürzen, ihm aber eine Prämie versprechen für den Fall, daß er im nächsten Jahr erfolgreicher ist, und unter Umständen damit drohen, daß ein erneutes Versagen zu seiner Entlassung führen müßte. Es bleibt dem betreffenden Beamten überlassen, solche Anordnungen in die Praxis umzusetzen, und Don Francesco verschwendet keinen Gedanken darauf, sich vorzustellen, wie das aussieht! Und weil das die Dinge so erfreulich vereinfacht, ist Don Francescos jetziges Leben insgesamt das Ergebnis seines höchst erfolgreichen Bemühens, die ganze Welt in einen Berg Papier mit Zahlen darauf zu verwandeln. Es sind die Kaufleute, die dieses Verfahren erfunden haben; aber niemand hat es darin so weit gebracht wie Don Francesco."

Er überlegte eine Weile. "Ich wuchs in diesem Wust von Zahlen auf," sagte er dann, "und fühlte mich sehr wohl dabei! Don Francesco hat niemals eines seiner Geschäfte vor mir verheimlicht; schließlich sollte ich ja lernen, genauso zu handeln wie er. Ich war vierzehn Jahre alt, als ein todesmutiger Geschichtslehrer mich darüber aufklärte, was diese Zahlen bedeuten, und habe den armen Mann verdächtigt und beschuldigt, Don Francesco verleumden zu wollen. Aber seit ich mich gezwungen sah, ihm zu glauben, hat mich der Wunsch, die Wirklichkeit zu kennen, die hinter den Zahlen steht, nicht mehr zur Ruhe kommen lassen; und vielleicht ist es mehr als alles andere dieser Wunsch, der mich nach Alvisia treibt."

Wieder machte er eine Pause, und wieder nutzte Catterina diese Einladung, eine Frage zu stellen, nicht aus. Ihr Blick war jedoch erwartungsvoll genug, um Don Raffael zum Weitersprechen zu ermutigen. "Ich will auch gar nicht behaupten, daß diese Besuche mich gleichgültig lassen," gab er zu, "aber was mir dabei zu schaffen macht, ist weniger das Mitleid als vielmehr das Entsetzen über die Gefangenschaft an sich! Ich kann mir fast nichts Schrecklicheres vorstellen, als mit einer kurzen Kette an eine Mauer gefesselt zu sein; und ich begreife wirklich nicht, woher diese Leute die Kraft nehmen, monatelang in einer Lage auszuharren, in der ich spätestens am dritten Tag versuchen würde, mir den Kopf an der Mauer zu zerschmettern!"

"Hoffnung," sagte Catterina. Während sie das Wort aussprach, versuchte sie im stillen zu entscheiden, ob Don Raffael wirklich imstande war, seine gräßliche Drohung notfalls wahr zu machen, oder ob er lediglich besonders anschaulich übertrieben hatte. Sie war sich ziemlich sicher, daß sie selbst einen so verzweifelten Ausweg niemals in Betracht ziehen würde, wie kurz die Kette und wie lang die Gefangenschaft immer sein mochten.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
9. Alvisia M