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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

9    Alvisia


 
 
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Seine Gemütsruhe, die zu Beginn der peinlichen Enthüllung merklich ins Wanken geraten war, schien sich wieder gefestigt zu haben. Erleichtert darüber, daß er die Beichte mit einigem Anstand hinter sich gebracht hatte, hätte er das Thema gerne fallen lassen; da er jedoch bemerkte, daß Catterina seinen Scherz nur mit einem zittrigen Lächeln quittierte und offenbar heftiger erschrocken war, als ihre sparsamen Kommentare zeigten, zwang er sich nach einem kurzen Zögern zum Weitersprechen. "Don Francesco hat das Vertrauen in die Ärzte lange vor mir verloren; aber seine Leidenschaft, alles in lange Zahlenreihen zu verwandeln, hat sich auch in diesem Fall geltend gemacht, und so kam er auf den Gedanken, der Sache durch genaue Beobachtung auf den Grund zu gehen. Zwischen meinem neunten und meinem zwölften Lebensjahr stand ich pausenlos unter der Aufsicht von zwei Ärzten, die jeden Schritt, den ich tat, jedes Wort, das ich sagte, und jeden Bissen, den ich aß, zu Protokoll nahmen. Nichts, aber auch gar nichts, entging ihrer Aufmerksamkeit; und an jedem Jahresende pflegte Don Francesco ihre Aufzeichnungen selbst auszuwerten. Er hat unglaublich viel Zeit mit diesem Unternehmen vertan, das sich letztlich als sinnlos erwies: die einzigen greifbaren Ergebnisse, zu denen es führte, waren die Erkenntnis, daß die Anfälle etwas seltener auftraten, wenn das Schlafzimmer gedämpft erleuchtet war — aber absolut überzeugend ist auch das nicht —, und die Einsicht, daß es keinen Zweck hat, mich in der Nacht nach einem als Anlaß erkannten Ereignis wachzuhalten, da der Anfall nicht an die erste Nacht, sondern an den ersten Schlaf nach dem Ereignis gebunden ist; das hätte man wohl mit wesentlich weniger Aufwand genausogut herausfinden können.

Folglich befreite Don Francesco mich von der ärztlichen Überwachung, als ich zwölf Jahre alt wurde, und beschränkte sich danach darauf, jeweils am Morgen nach jedem Anfall eine gründliche Gewissenserforschung mit mir vorzunehmen und eigenhändig alles aufzuschreiben, was mir zum Vortag noch einfiel; und dabei machte er die einzige bedeutsame Entdeckung, die in diesem Zusammenhang je gemacht worden ist: er stellte fest, daß es mitunter genügte, ein Ereignis, das Anfälle hervorrief, ausführlich und gründlich mit mir zu besprechen, um zu erreichen, daß es keine weiteren Anfälle mehr auslöste, selbst wenn es noch so oft wiederkehrte. Don Francesco maß dem weniger Gewicht bei als ich, weil er einsehen mußte, daß das Mittel sich nicht in allen Fällen als wirksam erwies. Über diese Fälle weiß ich allerdings besser Bescheid als er. Es handelte sich dabei ausnahmslos um Dinge, die ich ihm nicht völlig offen anvertrauen wollte, und bei denen gerade der entscheidende Rest ungesagt blieb: in solchen Fällen trat unfehlbar die erwünschte Wirkung des Gesprächs nicht ein. Und leider verband die Krankheit sich im Lauf der Jahre mehr und mehr mit Ereignissen, die ich mit Don Francesco nicht rückhaltlos erörtern konnte, so daß er allmählich das Vertrauen in sein eigenes Heilmittel verlor. Dennoch ist es nach wie vor die einzige Möglichkeit der Abhilfe, an die ich glaube, und ich bin Euch deshalb sehr dankbar dafür, daß Ihr mir heute abend ganz unverhofft Gelegenheit gegeben habt, so ausführlich über meine Besuche in Alvisia zu sprechen; das wird es mir unter Umständen ermöglichen herauszufinden, ob ein solches Gespräch sich auch dann als hilfreich erweist, wenn ich es mit einer anderen Person als Don Francesco führe."

"Ihr habt nie zuvor versucht, das herauszufinden?" fragte Catterina ungläubig.

"Oh doch, sogar mehrmals," gab Don Raffael zu, "aber bisher stets ohne Erfolg! Die Umstände waren allerdings tatsächlich noch nie so günstig wie heute; es ist schließlich nicht immer eine vertrauenswürdige Person zur Hand, und selbst wenn das der Fall ist, verläuft das Gespräch mitunter recht unbefriedigend." Er starrte eine Weile geistesabwesend vor sich hin und sagte dann unvermittelt: "Immerhin sieht es doch wie ein ungeheuerlicher Hohn des Schicksals aus, daß Don Francesco und ich, die so reich sind, so sehr unter der Schwierigkeit zu leiden haben, etwas zu bekommen, das selbst dem ärmsten Bettler im Überfluß zur Verfügung steht: Luft." Dann stand er ziemlich abrupt auf und erklärte: "Wie dem auch sei, es läßt sich jedenfalls nicht verantworten, daß ich Euch jetzt noch länger vom Schlafen abhalte."

Er trat zu Catterinas Sessel, offenbar in der Erwartung, daß sie seinem Beispiel folgen und beim Aufstehen seinen Arm nehmen würde. Aber Catterina blieb sitzen und sah nachdenklich zu ihm empor. "Da ist noch etwas, das ich nicht verstehe," beharrte sie, "wenn die Besuche in Alvisia Euch zu allen übrigen Ungelegenheiten hinzu auch noch Anfälle verursachen, warum gebt Ihr sie dann nicht auf?"

Don Raffael lachte. "Glaubt mir," sagte er, "wenn ich alles vermeiden wollte, was einen Anfall nach sich ziehen könnte, dann müßte ich mich in meine Zimmer einschließen und das Bestreben, mir jegliche Aufregung vom Hals zu halten, zu meinem obersten Daseinszweck erheben; und es ist noch lange nicht bewiesen, daß eine solche Lebensweise die Zahl der Anfälle merklich verringern würde! Ich weiß nicht, ob Ihr das verstehen könnt, aber ich habe mich stets dagegen gewehrt, mich zum Gefangenen meiner Krankheit zu machen, und pflege schon seit Jahren so zu leben, als ob es diese Anfälle gar nicht gäbe."

"Ich bin sehr wohl imstande, das zu verstehen," versicherte Catterina, erhob sich endlich und ergriff seinen Arm, "es entspricht doch Eurer Devise, nicht wahr? Si cogor sino numquam — a nihilo*." Das war eine der Antworten, mit denen es ihr gelang, entzückte Anerkennung zu ernten, und auf dem Weg zum Ankleidezimmer bekam sie deshalb Gelegenheit, Don Raffael zu erklären, wann und warum sie sich entschlossen hatte, Latein zu lernen.

Obwohl Catterina schon in den vorangegangenen Nächten nur wenig geschlafen hatte, wurde diese Nacht doch zur ersten ihrer Ehe, in der sie gar keinen Schlaf fand. Anders als Don Raffael, der trotz aller beschworenen Ängste wie in den meisten Nächten zuvor fast in demselben Augenblick einschlief, wo sein Kopf das Kissen berührte, lag Catterina bis zum Morgen wach, starrte auf den Lichtschein, der durch den Türspalt aus dem Ankleidezimmer in das halbdunkle Schlafzimmer fiel, und horchte auf den tiefen, ruhigen und gleichmäßigen Atem des Mannes, der neben ihr offenbar den Schlaf des Gerechten schlief. Sie wagte sich kaum zu bewegen, aus Angst, ihn dadurch zu stören und das befürchtete Ereignis herbeizuführen, und kämpfte dennoch zunehmend mit Argwohn und Enttäuschung, als die Nacht fortschritt, ohne daß es eintrat. Der einzige bemerkenswerte Vorfall bestand diesmal darin, daß Don Raffael, als er sich — wie stets — nach einigen Stunden vom Rücken auf den Bauch drehte, im Schlaf ein paar unverständliche Worte murmelte; und gegen Morgen war Catterina beinahe überzeugt davon, daß er sie aus unerfindlichen Gründen zum besten gehalten hatte.

Alvisia lag nur eine knappe halbe Tagreise von Atthagra entfernt; für den Tag der Ankunft in der Hauptstadt war kein offizielles Ereignis geplant, und Don Francesco trug an diesem Morgen kein Verlangen nach der Gegenwart seines Bruders: der Kammerdiener erschien deshalb verhältnismäßig spät und zum vereinbarten Zeitpunkt, um Don Raffael zu wecken. Er hatte beträchtliche Mühe, seinen Auftrag erfolgreich auszuführen, und es gelang ihm erst mit Catterinas Unterstützung.

Nachdem sie ihn längere Zeit an der Schulter gerüttelt hatte — selbst diese harmlose Berührung kostete sie Überwindung —, öffnete Don Raffael endlich die Augen und begriff nur langsam, daß Morgen war. Er setzte sich kopfschüttelnd im Bett auf und erkundigte sich nach der Uhrzeit. Sobald ihm jedoch bewiesen wurde, daß er länger als sechs Stunden ungestört geschlafen hatte, machte sein Erstaunen einer überschäumenden Freude Platz, die selbst Catterina nicht für geheuchelt halten konnte. Er wartete kaum, bis die Tür sich hinter seinem Kammerdiener geschlossen hatte, bevor er Catterina an sich zog und stürmischer als jemals vorher umarmte. Wieder und wieder küßte er sie auf den Mund, die Stirn, die Wangen, und beteuerte dazwischen: "Ihr bringt mir Glück, Liebste, Ihr bringt mir wirklich Glück!"

Catterina ließ seinen — im übrigen folgenlosen — Temperamentsausbruch ziemlich gleichgültig, ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung, über sich ergehen. Sie war außerstande, Don Raffaels Freude zu teilen. An diesem letzten Tag der Reise nach Atthagra hatte sie nicht nur mit großer Müdigkeit zu kämpfen, sondern auch mit der bedrückenden Einsicht, daß ihre Ehe auf dem besten Weg war, sich zu einem unbegreiflichen Kuriosum zu entwickeln. Was sie jedoch am meisten beunruhigte, war ein neuer Zwiespalt ihrer Gefühle. Sie konnte sich nicht länger darüber täuschen, wie sehr sie allen unvermindert fortbestehenden Ängsten und Vorbehalten zum Trotz darunter litt, daß sie in demselben Zustand nach Atthagra zurückkehrte, in dem sie die Stadt sechs Jahre zuvor verlassen hatte: als Jungfrau.

* lat.; zu deutsch: "Wenn ich gezwungen werde, dulde ich es niemals" (Don Raffaels Turnierdevise) — "von nichts und niemand" (Catterinas Zusatz)    zurück


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
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