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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

12    Ganymed


 
 
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"Wir werden sehen," sagte der Fürst und entließ sie zu guter Letzt sogar mit einem Lächeln, das zwar merkbar melancholisch ausfiel, aber durchaus hinreichte, Zweifel in Catterina zu wecken. War die drohende Katastrophe am Ende ein Hirngespinst, das nur in ihrer Einbildung bestand? Auf dem Weg zum Schlafzimmer versuchte sie sich darüber Gewißheit zu verschaffen und fragte Don Raffael mit vorgetäuschter Naivität, ob alle Philosophen so schlechte Tischmanieren hätten.

"Vermutlich nicht," sagte Don Raffael, "nur wenn man ihnen Grund gibt, sich für Autoritäten zu halten! Und der Sior da Chiaparvo legt gewiß Wert darauf zu zeigen, daß er hochadliger Abstammung und kein Lakai ist! Gutes Benehmen gilt ja weithin als eine Lakaientugend. Freilich benimmt der Sior da Chiaparvo sich immer noch gesitteter als das derzeitige Oberhaupt des Hauses, dem er entstammt, und im Gegensatz zum Herzog von Arascona würde er niemals wagen, vor Don Francesco zu erscheinen, ohne vorher gebadet zu haben! Schlechtes Benehmen allein stört Don Francesco nicht, und der Sior da Chiaparvo wird ihm wohl erst an dem Tag lästig werden, an dem er in allen Punkten einer Meinung mit ihm ist." Er verstummte kurz und setzte dann hinzu: "Leider wußte ich nicht, daß Don Francesco ihn eingeladen hatte; ich hätte Euch sonst auf die Ehre vorbereitet, die Euch da widerfahren ist. Aber ich fürchte, sie wird Euch ohnehin noch öfter zuteil werden: heute abend war nämlich mehrfach die Rede davon, daß der Sior da Chiaparvo uns bei der Heimreise bis nach Corvalla begleiten soll." Und nach einer weiteren Bedenkpause bestätigte er Catterinas Unheilsahnungen, indem er erklärte: "Im allgemeinen schätze ich den Sior da Chiaparvo nicht sonderlich; aber ich muß sagen, es war sehr klug von Don Francesco, ihn heute abend einzuladen. Er hat recht wirkungsvoll für Unterhaltung gesorgt, und ich wüßte nicht, wer das sonst hätte tun sollen."

"Ihr wart sehr schweigsam," sagte Catterina vorsichtig.

"Gewiß, Liebste," versetzte Don Raffael, "aber ich habe ja heute ohnehin schon zuviel geredet! Nach dem Redeschwall, mit dem ich Euch zuvor überschüttet hatte, sind mir beim Abendessen eben die Worte ausgegangen." Catterina verstand das als eine Aufforderung, nicht weiterzufragen, lächelte pflichtschuldigst über den Scherz und gab sich damit zufrieden.

Während des gesamten Abendessens hatte Don Raffael nur mit halbem Ohr auf das Tischgespräch gehört und fast ausschließlich über Catterina nachgedacht. Von allen Problemen, die ihn augenblicklich betrafen, war sie das erfreulichste, und er empfand wenig Bedauern, als er sich eingestand, daß er in seiner Beziehung zu ihr den Rubikon überschritten hatte, und daß einer der ursprünglichen Vorteile seiner Heirat — die Tatsache, daß Catterina ihm als Frau nicht anziehend erschien — inzwischen gänzlich hinfällig geworden war. In den wenigen Tagen seit der Hochzeit hatte Catterina sich auf geradezu überwältigende Weise zu ihren Gunsten verändert. Die Mauern von Feindseligkeit und Verdrossenheit, hinter denen sie sich früher verschanzt hatte, waren zusammengebrochen, ohne überhaupt ernsthaft berannt worden zu sein, und dabei war ein lebhaftes, weichherziges Wesen zum Vorschein gekommen, das ihn entzückte und fast unwiderstehlich zur Zärtlichkeit herausforderte.

Was Don Raffael aber am meisten rührte, war das unschuldige und unbeirrbare Vertrauen, mit dem Catterina ihm die gewiß mühselig errichtete Festung zu Füßen legte. Er konnte sich nicht darüber täuschen, daß er in dem Bestreben, Catterina durch Freundlichkeit zu beruhigen und mit der Heirat auszusöhnen, weit über sein Ziel hinausgeschossen war: selbst ein weniger geübter Beobachter hätte mühelos erkannt, daß Catterina vor Liebe glühte. Und Don Raffael fand es sehr schwierig, auf Dauer einer Frau zu widerstehen, die ihm ungeheuchelte Zuneigung entgegenbrachte. Solange er während des Abendessens neben ihr saß, hatte er deshalb Catterinas Gegenwart nicht vergessen, und hatte heftig mit der Versuchung gekämpft, sie wenigstens mit der Hand — und wenigstens für einen Augenblick! — zu berühren; dieses Verlangen wuchs in gleichem Maße wie Catterinas Unbehagen, das ihm nicht verborgen blieb. Als das Essen vorbei war, hatte Catterina ihn zu allem Überfluß noch durch die geistreiche und kühne Antwort in Begeisterung versetzt, mit der sie dem Fürsten beim Abschied seine Unhöflichkeit vorwarf. Er selbst, so schien ihm, hätte einen solchen Vorwurf bei Aufbietung aller diplomatischen Künste nicht geschickter formulieren können, und er billigte Catterina bewundernd zu, daß er sie zu Beginn ihrer Bekanntschaft bei weitem unterschätzt hatte.

Und diese zahlreichen Anfechtungen, denen Don Raffael ohnehin ausgesetzt war, wogen zusammengenommen immer noch weniger schwer als die Tatsache, daß Catterina derzeit als einzige Frau zur Hand war und keine andere für ihn in Frage kam. Die Möglichkeit, seinen Liebeshunger außerhalb des Ehebetts zu stillen, stand ihm zwar grundsätzlich offen; aber er zog sie nicht ernsthaft in Betracht. Natürlich bekümmerte es ihn nicht, daß er in einem solchen Fall Catterina untreu werden würde, denn er hatte sich in Liebesdingen noch nie zu körperlicher Treue verpflichtet gefühlt und zudem von vornherein unmißverständlich erklärt, daß er sich diese Freiheit durch eine Heirat nicht rauben lassen würde. Seine Prinzipien waren es, denen er treu bleiben wollte, und diese Prinzipien verlangten von ihm, eine Frau, die er gegen ihren Willen geheiratet und in eine gefährliche Lage gebracht hatte, nicht durch verfrühte Seitensprünge öffentlich bloßzustellen.

Bei all dem hatten die Vernunftsgründe, die ihn vor dem Abendessen an einer überstürzten Befriedigung seiner Wünsche gehindert hatten, ihr Gewicht noch nicht gänzlich eingebüßt, und er hielt es deshalb für ratsam, bevor er zu Bett ging, ein kaltes Bad zu nehmen, das er nicht nur als gutes Schlafmittel, sondern auch als geeignetes Rezept zur Verminderung sinnlicher Gelüste kannte. Dennoch wirkte es in dieser Nacht nicht so prompt, wie er hoffte. Er hatte sich zwar auch in der Vergangenheit bereits Enthaltsamkeit zugemutet; aber nie zuvor hatte er derartige Anstrengungen bei einer Gelegenheit unternommen, wo er neben einer nackten, begehrenswerten und fraglos bereitwilligen Frau im Bett lag.

Fürwahr, in dieser Nacht hing Catterinas Jungfernschaft an einem sehr, sehr dünnen Fädchen. Daß es nicht riß, war zu einem nicht geringen Teil ihre eigene Schuld. Denn wenn Don Raffaels Selbstbeherrschung die härteste Probe bestand, der sie bislang ausgesetzt worden war, dann ließ sich das weder auf seine Charakterfestigkeit noch auf das kalte Bad zurückführen, sondern darauf, daß er krank, müde und hungrig war und deshalb endlich doch einschlief. Aber bevor der Schlaf ihn aus der Zwickmühle von Begierde und Verantwortung befreite, lag er weit länger als sonst wach, und in dieser Zeit hätte das leiseste Entgegenkommen Catterinas über seine Erschöpfung und alle politischen Rücksichten triumphiert. Es hätte schon genügt, daß sie den flüchtigsten Kuß erwiderte, mit dem er ihr je eine gute Nacht gewünscht hatte, oder daß sie danach ihre Hand auf seinen Arm gelegt hätte...

Catterina war jedoch zu scheu, um etwas so Aufdringliches zu tun. Sie zog es vor, stumm und möglichst reglos dazuliegen und bedrückt Überlegungen anzustellen, die sie rasch zu der Einsicht führten, daß Don Raffael gar kein Interesse daran haben konnte, sie zu entjungfern. Er hatte nicht nur keinen Grund, es zu tun; er hatte sogar einen bedeutsamen Grund, es nicht zu tun, und seine zärtlichen Anwandlungen am Abend waren wohl vollständig dadurch zu erklären, daß er zu jenen Leuten gehörte, die ein Goldstück auf dem Fenstersims nicht ungestohlen ließen. Und nichts bewies sein mangelndes Interesse an ihrer Zuneigung besser als das Gespräch, das er am Nachmittag mit ihr geführt hatte! Wenn ein Mann einer Frau begehrenswert erscheinen wollte, dann gestand er ihr nicht, daß er eine andere Frau liebte, und erzählte ihr nicht Dinge, die ihn in einem wenig schmeichelhaften Licht zeigten; das, dachte Catterina, vermochte selbst sie bei all ihrer Unerfahrenheit zu begreifen.

Und so schlief sie endlich über ihrem Kummer ein und kehrte im Traum in jenes Zimmer der Casa Reale zurück, wo sie ihre Hochzeitsnacht verbracht hatte. Der Traum spiegelte ihr vor, sie liege gefesselt in dem breiten Bett und sehe zu, wie die gemalten Teufelchen sich von der Holzdecke lösten und auf einer unsichtbaren Leiter in den Raum herabkletterten. Sobald sie alle auf dem Boden versammelt waren, kauerten sie sich rings um das Bett, verbargen ihre Köpfchen in den verschränkten Armen und begannen höchst künstlerisch in verschiedenen Tonlagen zu weinen.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
12. Ganymed/S