Link: Hinweise
Link: Inhalt
Link: Zum Verständnis
Link: Namenliste
Bild: Stammbaum
Link: Kapitelanfänge -- Übersicht
Link: Kapitelschlüsse -- Übersicht
Zum Seitenende Zum Seitenende KAPITEL
ANFANG
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

18    Angelicas Väter


 
 
Link: Die Autorin
Link: Kontakt
Link: Home


Von jenen Günstlingen des Schicksals, die Catterina in den Adligen erblickte, war Domenico Barri einer der begünstigtsten gewesen. Als Erbe eines Titels geboren, der an siebter Stelle in der höfischen Rangfolge stand, Herzblatt und Augapfel eines Vaters, der sich seine Zeugung stets als Verdienst anrechnete, war er jahrelang wie ein kleiner Gott in einem Kinder- und Schulzimmer gehätschelt worden, in dem man seine zahlreichen Geschwister für jedes unrechte Wort und jeden Tintenklecks verprügelte. Als er mit sechzehn Jahren ins Leben hinaustrat, hatte alle Welt ihn gleichermaßen seiner Schönheit wie seiner sportlichen Glanzleistungen wegen bewundert und umschwärmt. Sein Vater hatte ihm nicht nur jede erdenkliche Freiheit gelassen, sondern ihm auch die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, die nötig waren, um diese Freiheit zu genießen. Er hatte ein Leben in Ehre und Luxus geführt und jedes Recht gehabt, von der Zukunft noch mehr Ehre und Luxus zu erwarten. Kurz, die Frage, warum Domenico Barri zum Säufer geworden war — denn jede andere Bezeichnung für seinen Hauptberuf wäre blanke Schönfärberei —, würde die moderne Psychologie ebenso vor ein Rätsel stellen wie seine unbedarften Zeitgenossen. Und da die genannte Wissenschaft bisher vorwiegend bestrebt gewesen ist, den Glaubenskredit, den die Öffentlichkeit ihr leichtfertig eingeräumt hat, dadurch zu rechtfertigen, daß sie althergebrachte Vorurteile mit fragwürdigen Argumenten als akademische Erkenntnisse präsentiert, käme sie nach längeren Erörterungen vermutlich zu dem gleichen Schluß, den Domenico Barris Zeitgenossen in dem Satz "wie der Vater, so der Sohn" zusammenfaßten: daß die fatale Neigung auf Vererbung beruhte.

Angesichts eines so überzeugenden Beweises für seine Abstammung war es niemand aufgefallen, daß die Ähnlichkeit zwischen Domenico Barri und seinem Vater sich in der Unmäßigkeit beim Genuß alkoholischer Getränke erschöpfte. Der Herzog von Arascona war von gedrungenem Körperbau und — bevor er, frühzeitig genug, kahl wurde — dunkelblond; er hatte niemals in einer der adligen Sportdisziplinen geglänzt, war dumm, vertrauensselig und äußerst gesellig und ging mit seinem Reichtum so großzügig um, wie das nur ein Verschwender kann. Und, was immer seine Fehler sonst sein mochten: in seinem ganzen Leben, das doppelt so lange währte wie das seines ältesten Sohnes, beging er niemals eine gewalttätige Handlung.

Domenico Barri, schlank, schmalhüftig und schwarzhaarig, überragte seinen Vater um Haupteslänge, galt jahrelang als unübertrefflicher Reitkünstler und als der beste Fechter des Adels und brauchte noch am Vorabend seines Todes, mit achtundzwanzig Jahren, nicht über Haarausfall zu klagen. Obwohl man ihn im Schulzimmer keinerlei Zwang unterwarf, hatte er schnell und leicht gelernt und war von seinen Lehrern als wahres Wunder an Intelligenz gepriesen worden. Vielleicht war es eine Folge dieser Intelligenz, daß er ein mißtrauischer Einzelgänger wurde, der seine Neigung sich abzusondern nur soweit bezwang, wie sie seinem ausgeprägten Hang zum Geiz entgegenstand: denn während der Vater eine Horde von Schmarotzern beherbergte und verköstigte, befriedigte der Sohn seine kostspieligen Gelüste gern auf Kosten anderer Menschen, die mitunter wesentlich weniger reich waren als er selbst.

Und so war es auch nicht verwunderlich, daß Domenico Barri seinem Vater, bei Licht betrachtet, nicht einmal in jener Eigenschaft glich, die er nach Meinung der Zeitgenossen von ihm geerbt hatte. Der Herzog von Arascona trank ausschließlich in Gesellschaft einer fröhlichen Tischrunde, deren Mitglieder er teilweise jahrelang eigens zu dem Zweck freihielt, ihm Gesellschaft zu leisten, und verband die Unmäßigkeit beim Trinken mit einer nicht minder großen Unmäßigkeit beim Essen, so daß er allmählich dick und immer dicker und endlich ausgesprochen unförmig wurde. Domenico Barri dagegen magerte in den letzten Jahren seines Lebens zusehends ab, da er über dem Trinken nach und nach das Essen vergaß und sich hauptsächlich von Wein und Branntwein ernährte. Er war ein einsamer Trinker, und diese Einsamkeit nahm mit den Jahren zu: denn anders als bei seinem Vater, der im Lauf eines Zechgelages erst ausgelassen und dann schläfrig wurde, verstärkten sich bei ihm unter dem Einfluß des Alkohols Argwohn, Streitsucht und Angriffslust. Seine Konversation bestand schon wenn er nüchtern war vorwiegend aus Großsprecherei, und schon in nüchternem Zustand vertrug er keinerlei Widerspruch; war er betrunken, verlor er jede Hemmung und ließ früher oder später den Worten Taten folgen. Wer sich so verhält, schließt keine dauerhaften Freundschaften.

Da die einfachste Erklärung für diese Trunksucht also wenig befriedigt, bliebe noch die Möglichkeit, nach auslösenden Ereignissen im Leben des herzoglichen Erben zu fragen; und es gab da freilich manches, was einem aufgeklärten Geist bedenklich, wenn nicht gar verhängnisvoll erscheinen dürfte. Zum einen war Domenico Barri seit seiner Kindheit an Alkohol gewohnt — das heißt, von dem Tag an, wo er abgestillt wurde, hatte sein Hauptgetränk aus jenem Gemisch von Wein und Wasser bestanden, das alle Kinder zu trinken bekamen, deren Eltern sich Wein leisten konnten. Aber das war der weitaus größte Teil der Bevölkerung, und die Kinder des kleinen Teils, der zu arm dafür war, unterlagen einem bedeutend höheren Risiko, an Typhus oder einer jener anderen Krankheiten zu sterben, die man sich durch verunreinigtes Trinkwasser zuziehen kann. Denn Alkohol ist nicht nur ein Rausch-, sondern auch ein Desinfektionsmittel; Pasteur hatte das Kochen noch nicht erfunden, die Ära von Instanttee, Fruchtsaft und Limonade war noch nicht angebrochen, Milch kostete erheblich mehr als Wein, und das Trinkwasser stammte meist aus Zisternen und Flüssen, in die jedermann seinen Abfall werfen konnte. Übrigens wurden längst nicht alle Kinder zu Trunkenbolden, die mit diesem Getränk aufwuchsen; und Domenico Barri war zudem als verhätschelter ältester Sohn erst bei seinem fünften Geburtstag — fast drei Jahre später als die meisten anderen Kinder — abgestillt worden.

Bedenklich mag es auch scheinen, daß der Herzog von Arascona seinen Erben, schon seit dieser zehn Jahre alt war, als Zaungast bei seinen Trinkgelagen duldete, und daß es dabei zu den bevorzugten Späßen der Tischrunde gehörte, dem Kind unvermischten Wein zu trinken zu geben, solange, bis es sinnlos betrunken war, und diese frühe Unterweisung in den Lastern der Erwachsenen mit lautem Hallo und Beifallsklatschen zu begleiten. Aber ein solches Mißgeschick stieß in jenen unaufgeklärten Zeiten vielen Kindern zu, von denen die meisten aus der Erfahrung eine ganz andere Lehre zogen: sie behielten die unvermeidlichen Folgen ihrer Heldentat in so abschreckender Erinnerung, daß sie für den Rest ihres Lebens jedem alkoholischen Exzeß aus dem Weg gingen; und auch Domenico Barri war zu Beginn keineswegs begierig auf die ständige Wiederholung des Experiments gewesen und hatte eine heftige Abneigung gegen die Zechkumpane seines Vaters empfunden, die ihn jedesmal wieder zum Trinken aufforderten.


Zurück
zum 17. Kapitel
Zum 1.Mittelstück
Zum 2.Mittelstück
Zum 3.Mittelstück

Zum Seitenanfang
Weiter
zum Kapitelende


TAURIS
Roman von Pia Frauss
18. Angelicas Väter/A