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MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Die Nacht
   in Marappa


(Auszug aus Kap. 18)


 
 
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Don Raffaels Gewohnheit, sich im Schlaf auf den Bauch zu drehen und dabei einen Arm über den Körper zu legen, den er dicht neben sich zu finden erwartete, war erst entstanden, nachdem er begonnen hatte, seine Nächte mit Bianca Barri zu teilen. In dieser Nacht geschah es zum ersten Mal seit Monaten, daß er dabei ins Leere griff. Er schrak unverzüglich aus dem Schlaf hoch, setzte sich auf und sprang in Panik aus dem Bett, sowie er festgestellt hatte, daß Bianca Barri wirklich nicht neben ihm lag. Er fand sie beim Kamin, am Boden kauernd, auf einem Kissen, das sie von einem Sessel genommen hatte, zitternd vor Kälte in dem dünnen Umhang, der sie nicht wärmte, obwohl sie ihn so eng wie möglich um ihren Körper gewickelt hatte. Sie hatte die Wange an die Kamineinfassung gelehnt und starrte so versunken auf die letzten verglimmenden Holzbrocken, daß sie Don Raffaels Anwesenheit erst wahrnahm, als er sich neben ihr niederließ und beide Arme um ihre Schultern legte. "Um Himmelswillen!" sagte er. "Was macht Ihr hier? Ist etwas geschehen?"

Bianca Barri wandte sich um, lächelte matt und verschränkte die Arme hinter seinem Hals. "Es ist nichts; kein Grund zur Besorgnis. Ich habe bloß nachgedacht."

"Nachgedacht —! Müßt Ihr das hier tun, wo Ihr Euch über kurz oder lang den Tod holen werdet?"

"Ich hatte einen häßlichen Traum, und danach konnte ich nicht wieder einschlafen. Ich war so unruhig; da bin ich aufgestanden und habe mich hierher gesetzt. Ich wollte Euch nicht stören."

"Verbindlichen Dank! Aber da ich nun schon einmal wach bin, solltet Ihr ins Bett zurückkommen und Euch wärmen; Ihr seid ja eiskalt. Ich möchte lieber gestört werden als zusehen, wie Ihr erfriert."

Bianca Barri ließ sich gehorsam auf die Beine helfen und zum Bett zurückführen. Sie streckte sich neben Don Raffael aus, machte es sich in seinen Armen bequem, legte ihre Füße zwischen die seinen und sagte nach ein paar Küssen: "Ich kann mir nicht vorstellen, daß es in Eurem Leben auch nur einen einzigen Tag gegeben hat, an dem Ihr Euch nicht geliebt gefühlt habt."

"War es das, worüber Ihr nachgedacht habt?" fragte Don Raffael verblüfft. "Nun, dann war es wohl an der Zeit, daß jemand darüber nachdenkt; denn wenn ich ehrlich bin: ich habe es noch nie getan."

"Nein; wozu auch? Das gehört zu den Dingen, die man für selbstverständlich hält — solange sie einem nicht fehlen."

"Fehlt es Euch denn?" fragte Don Raffael, unfähig, seine Neugier zu zügeln.

Bianca Barri lachte. "Ich habe nicht über mich nachgedacht. Es war ja wirklich eine konfuse Grübelei; irgendwie hat mich der heillose Zustand dieser Welt geplagt, in der niemand verpflichtet ist, uns zu lieben — und die Einsicht, wieviel Dankbarkeit wir denen schulden, die es trotzdem tun."

"Ihr steht kurz davor, einen Menschen zu haben, der nach Gesetz und Gottes Gebot verpflichtet sein wird, Euch zu lieben."

"Ich habe nicht vor, ein Kind zur Welt zu bringen, um es dann mit dummen Gesetzen und bösen Geboten zu quälen."

"Notfalls wird es immer genug Leute geben, die Euch diese Arbeit gern abnehmen, ob Ihr wollt oder nicht — verlaßt Euch darauf."

"Warten wir's ab," sagte Bianca Barri. Es war das erste und gleichzeitig auch das letzte Mal, daß sie sich über die Erziehung ihres Kindes unterhielten, und Bianca Barri beendete dieses Gespräch, indem sie abrupt das Thema wechselte. "Wie gut kennt Ihr Corleon Barri?"

"Ein bißchen besser als seinen Bruder Astorre, wenn man davon ausgeht, daß man einen Menschen eher bei Gesprächen als bei Fechtkämpfen kennenlernt. Ich habe mich eine halbe Stunde lang mit ihm unterhalten, als er letzthin in Atthagra war."

"Und wie hat er Euch gefallen?"

"Gar nicht. Warum fragt Ihr danach?"

"Weil ich vorhin von Corleon geträumt habe." Sie kroch noch ein bißchen tiefer in seine Umarmung, wartete auf eine Frage, die nicht gestellt wurde, und sagte endlich: "Seht Ihr, er hat eine merkwürdige Gewohnheit. Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll, und es ist mir noch bei keinem anderen Menschen aufgefallen: immer, wenn er eine längere Strecke geht, einen Korridor hinunter zum Beispiel, oder vom Haus zu den Stallungen, dann beginnt er beim Gehen mit den Händen zu schlenkern... Nun ja, nicht eigentlich schlenkern; seine Arme hängen fast unbewegt neben seinem Körper, aber er schüttelt die Hände aus, als habe er sie kurz zuvor ins Wasser getaucht, oder als wolle er etwas loswerden, das daran kleben geblieben ist. Und das hat zur Folge, daß seine Fingerknöchel knacken. Er geht sehr leise; selbst wenn er Stiefel trägt, kann er an geschlossenen Türen vorbeigehen, ohne daß man seine Schritte im Zimmer hört; aber das Knacken seiner Fingerknöchel bleibt sogar durch schwere Türen vernehmbar. Es ist ein Geräusch, das mir von jeher unheimlich vorkam; und mir scheint, mein Traum hat mit diesem Geräusch begonnen."

"Und wie hat er geendet?"

"Oh — ziemlich grausig. Ich habe versucht, Corleon das Herz aus der Brust zu reißen; aber ich habe es nicht gefunden. An der Stelle, wo ich es suchte, öffnete sich plötzlich ein schwarzer Abgrund, und ich begann gerade hineinzustürzen, als ich aufwachte."

"Kein Wunder, daß Ihr nicht mehr schlafen konntet; das klingt ja in der Tat fürchterlich! Aber, verzeiht mir die Neugier: hat Euer Schwager Euch etwas angetan, das solche Träume rechtfertigt?"

"Das kann ich nicht sagen," erwiderte Bianca Barri; und erst Tage später begriff Don Raffael, wie zweideutig diese Antwort gewesen war. Jetzt empfand er sie nur als klares Nein. Deshalb erschrak er auch nicht wenig, als Bianca Barri, einem unwiderstehlichen Drang gehorchend, plötzlich hervorstieß: "Aber eines weiß ich mit Sicherheit: er ist der einzige Mensch, an dessen Tod ich gern schuld wäre."

"Nun, nun!" sagte Don Raffael bestürzt, "meint Ihr nicht, daß Ihr da ein wenig zu weit geht? Nur deshalb, weil er beim Herumgehen häßliche Geräusche verursacht —?"

"Ihr versteht das nicht. Er ist schlimmer und gefährlicher als Domenico. Die Gesetze und die göttlichen Gebote — er kann sie alle auswendig; er hat sie alle auf seiner Seite. Bis ans Ende seines Lebens wird er als Muster hochangesehener Ehrbarkeit gelten. Aber es gibt kein Verbrechen und keine Niedertracht, zu denen er nicht fähig ist, wenn er Spaß daran oder Nutzen davon hat, und solange er überzeugt ist, daß er dabei unentdeckt und straflos bleibt. Und sobald er es mit irgendwelchen noch so fadenscheinigen Gründen rechtfertigen kann, wird er es auch ganz offen tun."

"Das kommt mir bekannt vor," sagte Don Raffael und schüttelte den Kopf. "Geliebte Bianca, wenn Ihr dergleichen als hinlänglichen Grund für ein Todesurteil betrachtet, dann solltet Ihr unverzüglich anfangen, darum zu beten, daß Gott Feuer und Schwefel auf die Menschheit herabregnen läßt oder eine neue Sintflut schickt! Was Ihr da beschreibt, sind Eigenschaften, die Corleon Barri nicht für sich gepachtet hat. Ihr werdet unter tausend Menschen kaum einen finden, der anders ist."

"Wer sagt Euch, daß ich nicht um eine Sintflut gebetet habe?"

"Das da," versetzte Don Raffael, leise lachend, und strich über ihren Bauch, "wenn Ihr nicht auf die Zukunft hofft, wer sollte es dann tun?"

Bianca Barri seufzte. "Ihr habt gewiß recht. Ich glaube, Ihr habt immer recht. Ihr habt mich gebeten, Eure Zimmer nicht zu verlassen, und es ist nichts Gutes daraus entstanden, daß ich nicht auf Euch gehört habe. Ihr habt mir geraten, Domenico Barri nicht zu besuchen, und es war sinnlos, daß ich trotzdem hingegangen bin. Ihr habt nicht gewollt, daß ich nach Chiaparvo reise... Es war unvermeidlich; aber es war falsch. Ich hätte wissen müssen, daß es zuviel für mich sein würde — in meinem Zustand! Der Herzog und Corleon, und die Kapelle, und erst recht das Grab... Es war furchtbar; den ganzen Weg zurück hat es mich verfolgt, und ich weiß nicht, wie ich all das je wieder loswerden soll."

Worte schienen da nicht mehr zu helfen. Don Raffael tat sein Bestes, Bianca Barri durch Zärtlichkeiten zu beschwichtigen. Er war zutiefst beunruhigt, wagte es aber nicht zu zeigen und erst recht keine Fragen mehr zu stellen: offenbar konnte er damit nur Antworten herausfordern, die immer tiefer in ein finsteres Labyrinth hineinführten. Endlich schlief sie doch ein, und sie schlief wohl traumlos bis zum frühen Morgen; denn als er erwachte, lag sie entspannt und ruhig atmend neben ihm. Sie lächelte ihm sogar zu, als er sie weckte, und schien so heiter, wie er es gewohnt war. Aber er selbst vermochte die Angstgefühle der Nacht nicht so leicht abzuschütteln; bis zum Ende des Frühstücks waren sie unbeherrschbar geworden, und er nutzte deshalb einen Augenblick kurz vor dem Aufbruch, als er allein mit Bianca Barri war, zu der Frage: "Werdet Ihr bei mir bleiben? Ich meine, werdet Ihr noch da sein, wenn ich zurückkomme?"


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
18. Angelicas Väter M