Link: Hinweise
Link: Inhalt
Link: Zum Verständnis
Link: Namenliste
Bild: Stammbaum
Link: Kapitelanfänge -- Übersicht
Link: Kapitelschlüsse -- Übersicht
Zum Seitenende Zum Seitenende KAPITEL
MITTE
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

Domenico Barris
   erster Fehler


(Auszug aus Kap. 18)


 
 
Link: Die Autorin
Link: Kontakt
Link: Home


Don Raffael war eben zwanzig Jahre alt geworden, als er — im Hochgefühl eines Schülers, der die Abschlußklasse betritt — zum ersten Mal auf ein Podium der königlichen Fechtsäle stieg, um sich mit Domenico Barri zu messen. Er verlor den ersten Übungskampf nach allen Regeln der Kunst; beim zweiten Anlauf, einen Monat später, erging es ihm kaum besser. Der dritte Kampf fand erst ein Vierteljahr darauf statt und verblüffte Domenico Barri durch ein Unentschieden infolge gleicher Trefferzahl, so daß er sich das nächste Mal besonders in acht nahm und wiederum siegte.

Das war im Oktober. Anfang Dezember fand jener fünfte Kampf statt, der mit scharfen Klingen ausgetragen wurde. Domenico Barri hatte in den Wochen davor jedem, der es hören wollte, haarklein auseinandergesetzt, wie er mit Don Raffael Schlitten fahren würde. Er hatte damit angegeben, daß er es diesem eingebildeten Affen schon zeigen werde, und hatte sich im vorhinein zu seinem unvermeidlichen Sieg gratuliert. Unter seinen Zuhörern waren ein paar skeptische Seelen gewesen, die ihn darauf hinwiesen, daß Don Raffael schon seit geraumer Zeit keinen fünften Kampf mehr verloren hatte; daß er allem Anschein nach zu den Fechtern gehörte, die sich darauf verstanden, ihrem Gegner während der ersten vier Übungstreffen alle wichtigen Geheimnisse zu entlocken. Nun, solche Zweifler hatten Mühe gehabt, mit heiler Haut davonzukommen; aber wer beschreibt Domenico Barris Erstaunen, als er während dieses fünften Kampfes feststellen mußte, daß ihre Warnungen vollauf berechtigt gewesen waren? Er konnte sich abmühen, wie er wollte: Don Raffael hatte auf jeden Angriff die passende Erwiderung parat. Aus dem Staunen wurde fassungslose Wut, als Don Raffael endlich mehr und mehr die Rolle des Angreifers übernahm und dabei mit Strategien aufwartete, die Domenico Barri noch nie bei ihm erlebt hatte; eine unerträgliche Heimsuchung für einen Meister, der sechs Jahre hindurch in den königlichen Fechtsälen kaum je eine Überraschung hatte hinnehmen müssen — geschweige denn eine Niederlage. Seine Wut steigerte sich deshalb zur Mordgier, nachdem er so sehr in die Defensive gedrängt worden war, daß er zweimal gefährlich nahe an die Demarkationslinie geriet.

Kämpfe mit scharfen Klingen waren meist spätestens nach einer Minute und manchmal sogar schon nach wenigen Sekunden entschieden. Dieser hier erreichte die phänomenale Dauer eines Übungskampfes, und als Domenico Barri begriff, daß er ihn nicht gewinnen konnte, wurde ihm gleichzeitig bewußt, daß der Saal ringsum vollkommen still geworden war, daß alle anderen Tribünen leer waren, weil die Kämpfer sich zu den Zuschauern gesellt hatten, und daß über seinem Kopf eine dichtgedrängte Menschenmenge die Brüstung der Galerie belagerte. Unter all diesen Menschen hatte er keinen einzigen Freund. Sie warteten allesamt gespannt und begierig auf seine Niederlage: sobald Don Raffaels Sieg feststand, würde ein ohrenbetäubender Jubel losbrechen.

Und da beging Domenico Barri den ersten der Fehler, die ihn fast genau zwei Jahre später das Leben kosten sollten. Nachdem alle erlaubten Manöver wirkungslos geblieben waren, versuchte er seinen Gegner mit einem unerlaubten zu überrumpeln, und wohlgemerkt mit einem, das unweigerlich zu dessen Tod geführt hätte, wäre es erfolgreich gewesen. Es war zudem ein ziemlich plumper, geradezu anfängerhafter Angriff, der aber gerade deshalb den Vorteil des Unerwarteten hätte haben müssen...

Wenn Don Raffael diesen Tag überlebte, so verdankte er das allein der Tatsache, daß er Domenico Barri während der vergangenen beiden Jahre innerhalb und außerhalb der Fechtsäle mit unermüdlicher Gründlichkeit studiert hatte. Er kannte nicht nur nahezu die gesamte Palette seines fechterischen Könnens, sondern auch seinen Charakter und sein hitziges Temperament; er war gewarnt und hatte sich die Warnung zu Herzen genommen. Schon als er in der Entschlossenheit, den Sieg diesmal nicht zu verschenken, auf die Tribüne gestiegen war, hatte er halbwegs mit einer Regelverletzung des Gegners gerechnet, und geraume Zeit, ehe sie wirklich stattfand, hatte er sie als unvermeidlich erwartet. Und so gelang es ihm, sich unter dem Hieb, der ihm den Schädel spalten sollte, gerade noch wegzuducken und, als er in die Knie ging, die gegnerische Klinge zwei Millimeter über seinem Kopf abzufangen, während ein vielstimmiger Schreckensschrei von der Galerie fast die Saalfenster zum Bersten brachte.

Unmittelbar nach der allgemeinen Schrecksekunde griffen Zeuge und Schiedsrichter von beiden Seiten ein und schlugen die immer noch aufeinander ruhenden Klingen auseinander. "Der Kampf ist entschieden," verkündete der Schiedsrichter, zu Don Raffael gewandt, "und zwar, da Euer Gegner in gröblicher Weise gegen die Regeln verstoßen hat, zu Euren Gunsten. Seid Ihr damit zufrieden?"

Wenn es eine Sache gab, in der Don Raffael keinen Spaß verstand, dann war es das Reglement bei offiziellen Fechtkämpfen. Für gewöhnlich brach er ein Treffen mit einem Gegner, der einen offenbar willentlichen Verstoß dagegen beging, unverzüglich ab und weigerte sich ausdauernd, je wieder gegen ihn zu anzutreten. Er wußte auch jetzt mit Sicherheit, daß dies sein letzter Kampf gegen Domenico Barri sein würde. Aber das war nicht der Sieg, den er sich vorgestellt hatte. Es konnte nicht sein, daß er sich für ein so jämmerliches, lächerliches Ergebnis zwei Jahre lang abgemüht haben sollte. Zwei Jahre lang hatten seine Gedanken um Domenico Barri gekreist, hatte er auf eine Unzahl eigener Kämpfe verzichtet, um diejenigen Domenico Barris zu verfolgen, hatte als Zeuge bei Duellen fungiert, wo er ein ums andere Mal tatenlos mitansehen mußte, wie Domenico Barri den Kontrahenten förmlich niedermähte, hatte mit seinen Fechtlehrern Kampfsituationen nachgestellt und völlig neuartige Riposten eingeübt; und jetzt dies? "Der Kampf ist durch einen Regelverstoß zu Euren Gunsten entschieden" —!

"Nein," sagte Don Raffael, während er aufstand, und hielt den Blick in erbarmungsloser Siegesgewißheit auf das haßgerötete Gesicht des Feindes gerichtet, "das genügt mir nicht. Ich will den Kampf fortsetzen." Für dieses Verlangen gab es keinen Präzedenzfall; denn die Frage des Schiedsrichters war rein rhetorisch gemeint. Als Don Raffael sie gegen jedes Erwarten verneinte, mußte man erst den für das Fechtreglement zuständigen Zeremonienmeister herbeiholen, und dieser mußte erst ein gewichtiges handgeschriebenes Buch konsultieren, bevor die Sache entschieden werden konnte — und zwar in dem Sinne, daß eine Fortsetzung des Kampfes möglich war, wenn sie von beiden Kontrahenten gewünscht wurde, daß er in einem solchen Fall aber ohne jegliche Regelauflage zu einer Entscheidung gebracht werden mußte, die nur in der Entwaffnung oder Kampfunfähigkeit eines der beiden Gegner bestehen konnte.

Es war genau das, was Domenico Barri wünschte, und besser als alles, was Don Raffael zu hoffen gewagt hatte. Ein Duell von der Art, wie er es sich schon seit zwei Jahren durch ein oft bereutes Versprechen verboten hatte, das aber nicht diesen Namen trug! Welch unverhoffte Gelegenheit, die Kunststücke öffentlich vorzuführen, die in den Fechtschulen des Fürsten von Orsino gelehrt wurden und in den zivilen Fechtschulen völlig nutzlos waren, weil sie fast allesamt verbotene Angriffshiebe enthielten! Er kehrte mit einem glücklichen Stoßseufzer in die Ausgangsposition zurück, führte einen Tanz auf, von dem alle fechtbegeisterten Höflinge noch nach Monaten schwärmten, und gab sich jede erdenkliche Mühe, das unwiederbringliche Vergnügen nicht durch ein vorzeitiges Ende zu zerstören. Ja, er dehnte den Kampf solange aus, daß der Sieg zuletzt nur noch eine Frage der Kondition war. In diesem Punkt aber war Don Raffael Domenico Barri schon seit langem überlegen. Inzwischen war er auch versöhnlich genug gestimmt, um sich für ein unblutiges Ende zu entscheiden; und als er Domenico Barri ungläubig seinem Säbel nachblicken sah, der in hohem Bogen davonflog und erst in der Gasse hinter der übernächsten Tribüne zu Boden fiel, fühlte er sich tatsächlich für zwei Jahre der Mühsal hinreichend belohnt.

Selbst dieser glänzende Sieg veranlaßte ihn nicht, den Regelverstoß zu verzeihen. Sobald der allseitige Jubel ein wenig leiser geworden war, trat er daher auf Domenico Barri zu und sagte finster: "Für diesmal will ich es hingehen lassen. Solltet Ihr aber innerhalb der nächsten drei Jahre einen Gegner in einem regelrechten Treffen auf ähnliche Art zu Tode bringen, wie Ihr es heute bei mir versucht habt, werde ich alles daransetzen, Euren Ausschluß aus allen Fechtschulen zu bewirken. Seht Euch vor; ich werde es nicht vergessen."

Was Domenico Barri darauf erwiderte, müssen wir hier nicht in aller Deutlichkeit aufschreiben. Er zitierte aus dem Werk eines deutschen Klassikers, bevor dieser noch geboren war, drehte sich um und stiefelte hinaus, und wer behaupten wollte, ihn während der folgenden Woche irgendwo auch nur halbwegs nüchtern angetroffen zu haben, mußte schon ein heilloser Lügner sein.

Don Raffael benötigte für diesen Fall kein Elefantengedächtnis. Denn das Unglück wollte es, daß Domenico Barri wenige Monate später, Ende Februar 1556, in einer Fechtschule Valantas auf den Mann traf, der im Vorjahr das Pfingstrennen gewonnen hatte. Es war ein Graf von Sant'Agostino di Novale, vierundzwanzig Jahre alt und erst kürzlich in den Genuß seines Titels gekommen. Sein Ehrgeiz tobte sich in denselben Regionen aus wie derjenige Domenico Barris, und nun hoffte er — nicht ohne Grund —, das allenthalben so genannte Wunder von Atthagra in Valanta wiederholen zu können. Bleibt noch hinzuzufügen, daß er seinem Rivalen auch im Charakter glich, weshalb an seinem Grab wenig echte Tränen flossen. Denn es war ihm wirklich fast geglückt, Domenico Barri bei diesem Treffen in Valanta zu besiegen, und er war nur noch um Haaresbreite vom Ziel seiner Wünsche entfernt gewesen, als Domenico Barri ihn mit einem regelwidrigen Säbelhieb regelrecht enthauptete.


Zum Kapitelanfang

Zum 2.Mittelstück
Zum 3.Mittelstück
Zum Kapitelschluss

Stammtafel
Namenliste

Zum Seitenanfang
Kapitelanfänge
Kapitelschlüsse

Mittelstücke





TAURIS
Roman von Pia Frauss
18. Angelicas Väter M