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TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

20    Rösselsprünge


 
 
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Seit mindestens zweihundert Jahren ist es eine Hauptaufgabe der Literatur, Werte auf den Schild zu heben, die in unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlichen Gründen den Eindruck erwecken, der Welt verlorengehen zu wollen — unter anderem deshalb, weil sie im Leben der Leser, würden sie sich dort mit gleicher Bedeutungsschwere geltend machen, als unbequem, hinderlich oder gar bedrohlich empfunden würden. Bücher sind für solche Dinge eine Art von Reservat, wo sie in aller Ruhe langsam aussterben können, während der Leser ein paar Tränen zerdrückt. Soweit es Ethik, Moral und Religion betrifft, ist dieser Todeskampf nun selbst in der Literatur beinahe überstanden: zwischen zwei Buchdeckeln neueren Datums wird man dergleichen kaum noch oder höchstens als süßliches, verwässertes Ersatzgebräu finden, das sich mit den bitteren, zähen Ausflüssen des Alltagslebens nicht vermischen läßt und bestenfalls verhindert, daß der Leser die Sache am Geschmack erkennt, wenn er sie wirklich einmal unverfälscht zu kosten bekommt.

Sehr lebendig in den Büchern aller Preisklassen ist dagegen immer noch das, was man gern als Natur bezeichnet, will heißen Tiere und Pflanzen, Berge, Flüsse, Meere, Erde, Luft und Wetter. Wir verlangen geradezu von einem Buch, daß es uns durch Schilderungen darin bestärkt, diese Natur schön und schützenswert zu finden. Zwischen Zentralheizung und Klimaanlage liest es sich so wohlig von Abenteuern am Polarkreis und heißen Urwäldern, wo echte Männer sich noch als solche bewähren können, beim Licht der Halogenlampen steigt ein Sonnenuntergang am Meer vor uns empor, schwarz auf weiß versöhnt uns die Menschenleere eines Hochlandmoors mit der Bürohektik, die morgen früh wieder beginnt. Natur ist die exotische Ausnahmesituation für den Urlaub, die ein Buch kurzfristig vorzaubern kann, und wenn man das Auto gewaschen, die Blattläuse im Reihenhausgarten wieder einmal mit Chemikalien bekämpft, die sterilisierte Katze mit einer Portion Dosenfutter abgespeist und die Geschirrspülmaschine angeworfen hat, kann man sich immer bei einem guten Buch — oder einem hübschen Fernsehfilm — entspannen, dessen Held ständig von Natur umgeben und mit ihr mehr oder minder verwachsen ist.

In dieser Hinsicht haben fast alle Helden und Heldinnen unseres Buches schändlich gesündigt. Sie leben wie die Menschen unserer Breiten und Zeiten vorwiegend in Zimmern und begeben sich schlimmer als diese nur dann ins offene Land hinaus, wenn ein Zweck sie dazu zwingt. Der Grund ist einfach: sie gehören einem Zeitalter an, das nicht die Natur bedroht sieht, sondern sich ganz ungeniert von ihr bedroht fühlt. Natur, das sind für sie die Flöhe in den Betten, die Ratten in den Vorratskammern, die Sonne, welche die Haut verbrennt, Frühlingsfröste und Sommergewitter, welche die Ernte gefährden, Blitzschläge, die Haus und Hof vernichten können, zur Unzeit anschwellende oder austrocknende Flüsse, Berge, die den Verkehr behindern, und Wälder, in denen sich allerlei fürchtenswertes Getier tummelt. Selbst Astorre Barri, der Naturbursche unter unseren Helden, sieht das nicht anders und unterscheidet sich nur insofern von seinen hier beschriebenen Zeitgenossen, weil er alles, was ihm an Boden, Pflanzen und Tieren als Besitz anvertraut ist, möglichst intensiv bearbeitet in dem Bestreben, ihm den größtmöglichen Profit abzuringen: eben die Einstellung, die dazu geführt hat, daß wir die Natur heute als bedroht empfinden. Und es ist sinnlos zu hoffen, daß die Frau, die er heiraten wird, ihn eines Besseren belehrt. Wenn sie ihre Zeit vorwiegend im Sattel und in den Wäldern verbringt, um mehr Wild zu töten, als sie und der Haushalt ihres Vaters jemals verzehren können, bedeutet das lediglich, daß sie die Natur als einen großen Vergnügungspark betrachtet, wo sie rücksichtslos ihrem Zeitvertreib frönen kann.

Immerhin: die meisten unserer Helden mußten sich am 22. November dieses Jahres 1558 ins offene Land hinaus und damit mitten in die Natur begeben. Viele Gäste der Jubiläumsfeiern machten sich erst jetzt auf den Heimweg, und auch Don Philipp brach zu einem Jagdausflug nach Montedolazzo auf; er wollte seine Enttäuschung darüber verstecken, daß er bei dem festlichen Anlaß — dabei hatte er es doch so zuversichtlich erwartet! — wieder einmal nicht zum Thronfolger ernannt worden war. Astorre Barri ritt nach Castelcareggio, nicht nur, um über den Ehevertrag zu verhandeln, sondern auch, um seine jägerischen Fähigkeiten erneut — und hoffentlich zur Zufriedenheit seiner Braut — unter Beweis zu stellen, und der Fürst von Orsino trat endlich seine um acht Tage verschobene Heimreise an, trotz der Verzögerung nicht auf dem direkten Weg über Valanta.

Schon bevor er Orsino verließ, hatte Don Francesco beschlossen, daß er auf dem Heimweg Corvalla einen letzten Besuch abstatten würde, und von diesem Plan wich er nicht ab, obwohl die Jahreszeit inzwischen denkbar ungünstig für ein solches Vorhaben war. Über Corvalla nach Orsino zurückzukehren, bedeutete eine verdreifachte Reisedauer, da nur ein geringer Teil des Weges per Schiff zurückgelegt werden konnte. Man brach wohl zu Schiff auf, zarontaaufwärts diesmal, vorbei an den abgeholzten Hängen und rauchenden Holzkohlemeilern von Livarone; dann bog man in einen rechten Nebenfluß der Zaronta ab, der nach Novale hinaufführte. Es war keine allzulange Strecke; sie ließ sich an einem Tag bewältigen, und man übernachtete das erste Mal in Sant'Agostino di Novale, wo dieser Nebenfluß aus einem Gebirgstal ins Tiefland eintrat. Aber hier war die Schiffsreise unwiderruflich zuende. Von nun an mußte man sich am Gebirgsrand entlang in Sänften, zu Pferd, zu Fuß und in Wagen vorankämpfen. Mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Fürsten hatte man eine Reisegeschwindigkeit von ungefähr zwanzig Kilometern am Tag veranschlagt, und es war keineswegs einfach gewesen, in so kurzen Abständen passende Quartiere und Verpflegung für einen Troß bereitzustellen, der jetzt mit allen Bediensteten und Soldaten gut dreihundert Menschen umfaßte.

Am ersten Abend der Reise setzte auch noch ein Dauerregen ein, der länger als eine Woche hindurch nur stundenweise nachließ. Die Natur, mit der man sich in der Folge herumschlagen mußte, bestand daher vorwiegend in Schlamm von unten und Wasser von oben. Wer wie die Soldaten zu Fuß oder wie Don Raffael zu Pferd unterwegs war, wurde jeden Tag bis auf die Haut naß; Don Raffael hatte dieses Vergnügen sogar zweimal täglich, da er bei jeder Mittagsrast die Kleider wechselte. Die Sänftenträger konnten von Glück sagen, wenn sie nur bis zu den Knöcheln im Morast versanken; aber es geschah mehr als einmal, daß einer der Wagen, die Gepäck und Dienerschaft transportierten, darin steckenblieb. All das erschwerte die Reise zusätzlich, und selbst die geplanten zwanzig Tageskilometer wurden nur mit erheblichen Verzögerungen und Verspätungen bewältigt.


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
20. Rösselsprünge/A