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SCHLUSS
TAURIS oder Catterinas Entjungferung
Ein ahistorischer Roman von Pia Frauss
 

20    Rösselsprünge


 
 
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Vor diesem Hintergrund erschien sogar der Stadthauptmann nicht allzu abstoßend. Er war der einzige Gast, von dem Catterina mehr wußte als Name und Posten, und was sie über ihn erfahren hatte, veranlaßte sie, ihn gründlich zu taxieren. Natürlich war er ein hübscher junger Mann, und natürlich sah er keineswegs so aus, wie sie sich einen Giftmörder vorstellte. Catterina konnte noch nicht einmal die übliche Unzufriedenheit der Adligen in seinem Gesicht entdecken, obwohl es doch, so jung er war, bereits den Stempel einer lebensbegleitenden Gemütsregung trug: es wirkte verächtlich — vielleicht auch zynisch —, aber gewiß nicht auf eine verschlagene, berechnende Weise. Und obwohl sie ihn selten für längere Zeit aus den Augen verlor, sah Catterina ihn niemals lächeln. Ein Verbrechen aus Leidenschaft hätte man ihm jederzeit zutrauen können, aber keinen feigen Auftragsmord.

Auch gesprächig schien er nicht zu sein. Beim Essen saß er nicht in Catterinas Nähe; dennoch konnte sie beobachten, daß er kaum mehr als ein paar Worte mit seinen Tischnachbarn wechselte und appetitlos über seinem Teller brütete wie über einer unlösbaren Aufgabe. Und als sie nach Tisch mit ihm tanzte, lag es gewiß nicht an ihr, daß der Tanz so schweigsam verlief. Sie hätte sich gern ein genaueres Bild von ihm gemacht und versuchte daher ein Gespräch in Gang zu bringen. Vielleicht wählte sie eine ungeschickte Eröffnung. Sie habe kürzlich seinen Vetter kennengelernt, sagte sie.

"Meinen Vetter —?" wiederholte Gianfrancesco da Mertola zerstreut, nach einer längeren Denkpause, und hatte offenbar Mühe zu begreifen, wen sie meinte.

"Den Hofmusikdirektor," vervollständigte Catterina.

Eine weitere Denkpause folgte. "Ach ja, der arme Piettro," sagte der Stadthauptmann dann gedehnt, und eine ganze Welt von Verachtung für den Verwandten, der sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen mußte, lag in seiner Stimme.

Da war wohl nichts zu machen. Catterina verlor die Freude an ihrer Charakterstudie, beendete den Tanz, ohne ein weiteres Mal zu sprechen oder angesprochen zu werden, und kam dabei zu der Einsicht, daß Gianfrancesco da Mertola, selbst wenn er kein Mörder war, zumindest als bemerkenswert widerlicher Mensch gelten durfte.

Was Catterina für die Bekundung eines arroganten und abweisenden Charakters hielt, erschien Don Raffael als Anzeichen einer befremdlichen Wesensveränderung. Gianfrancesco da Mertola blickte immer überheblich in die Welt, sicher, aber bislang hatte er weder geistesabwesend noch verschlossen gewirkt. In Gesellschaft gab er sich stets zuvorkommend, nahm nur allzugern an Gesprächen teil, war selten um eine Antwort verlegen, schreckte vor keinem Scherz zurück, pflegte unnötig oft zu lächeln und brach beim geringsten Anlaß in Gelächter aus — eine Unbeschwertheit, die schon jahrelang als Ergebnis krampfhafter Anstrengung durchschaubar gewesen war; daß nun aber unversehens auch diese Fassade einstürzte, konnte nur ein Alarmsignal sein.

Offenbar gab es doch einen guten Grund für die Warnung, die Don Raffael am Vormittag erhalten hatte, und seine Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Sie erreichte ihren Höhepunkt beim fünften Tanz, als Catterina mit dem Stadthauptmann tanzte. Durch zwei nachfolgende Paare von seiner Frau und ihrer Sicherheit getrennt, mußte Don Raffael alle Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht ständig über die Schulter zurückzublicken, und war gleichfalls ein unaufmerksamer Gesprächspartner. Er atmete erst während der Pause auf, die nach dem sechsten Tanz begann. Catterina verbrachte diese Pause auf der für die Ehrengäste vorgesehenen Estrade in der wärmsten Ecke des Saales, links neben sich die Gastgeberin, rechts ihre Hofdamen. Ihr Sessel war so dicht an die Wand gerückt, daß kein Angreifer dahinter Platz hatte, und das Tablett, von dem sie sich eine der eisgekühlten Erfrischungen nahm, wurde anschließend einer Reihe weiterer Gäste angeboten — verabredungsgemäß, denn Don Raffael hatte dem Stadtvorsteher am Nachmittag mitteilen lassen, daß man Catterina keine eigens und erkennbar für sie vorbereiteten Speisen oder Getränke servieren dürfe.

Halbwegs beruhigt, mischte Don Raffael sich unter die übrigen Gäste und ließ sich auf die Gespräche ein, für welche die Tanzpause vorgesehen war, hatte aber auch weiterhin nur wenig Aufmerksamkeit zu verschenken. Sein Blick wanderte unablässig von seiner Frau zu Gianfrancesco da Mertola und wieder zurück. Daß er dieses Fest ursprünglich in der Absicht aufgesucht hatte, etwas mehr über Don Francescos Gespräche mit den Honoratioren zu erfahren, hatte er inzwischen fast vergessen. Dazu wäre er jetzt auch nicht mehr imstande gewesen; zielgerichtete Fragen vertrugen sich nicht mit ständig umherschweifenden Blicken und langwierige Gesprächstaktiken nicht mit den plötzlichen Standortwechseln, die er vollzog, sooft er befürchten mußte, die Aussicht auf eines seiner beiden Objekte zu verlieren.

Schon beim Essen hatte Don Raffael bemerkt, daß die Beachtung, die er dem Stadthauptmann widmete, auf Gegenseitigkeit beruhte. Mehr als einmal hatten seine Blicke sich mit denen des Gegners gekreuzt; und als Don Raffael sich jetzt durch die Menge der Gäste langsam an Gianfrancesco da Mertola heranarbeitete, geschah es erneut, wieder und wieder, viel zu häufig, als daß man den Zufall noch dafür hätte verantwortlich machen können. Allmählich begriff Don Raffael auch, daß in den dunklen Augen, die so unerschütterlich auf ihn gerichtet blieben, eine geradezu flehentliche Aufforderung lag. Es hatte fast den Anschein, als wünsche der Stadthauptmann brennend, daß Don Raffael ihn ansprach. Warum kam er dann aber nicht von sich aus auf ihn zu und zog sich stattdessen an den Rand der Gästegemeinde zurück, je mehr Don Raffael sich ihm näherte?

Als Don Raffael beschloß, gegen seine Vorsätze zu verstoßen und ein Gespräch mit dem Mann zu suchen, den er seit langem tunlichst mied, hatte die Saalmauer dem Rückzug ein Ende gesetzt. Gianfrancesco da Mertola lehnte abseits von den anderen Gästen an einem der Wandteppiche, ohne Gesprächspartner, und Don Raffael trat daher mit der Bemerkung auf ihn zu: "Offenbar seid Ihr heute nicht sehr gesellig, verehrter Sior da Mertola."

"Ich habe auf Euch gewartet," antwortete der Stadthauptmann so leise, daß Don Raffael ihn fast nicht verstand, und deutete eine Verbeugung an. "Nur deshalb bin ich heute abend hergekommen."

"Was soll das heißen?" fragte Don Raffael irritiert.

"Ich habe auf eine Gelegenheit gehofft, Euch um ein Gepräch unter vier Augen zu bitten, von dem Euer Bruder aber nichts erfahren darf, und möglichst bald, wenn es sich einrichten läßt, — königliche Hoheit."

"Einrichten ließe es sich gewiß," gab Don Raffael zu. "Ihr könntet mich zum Beispiel morgen nachmittag im kleinen Lesezimmer des Gerichtsarchivs treffen. Nur, bevor ich mich auf ein solches Abenteuer einlasse, müßte ich schon wissen, worum es sich dabei eigentlich handelt."

"Das kann ich Euch hier leider nicht sagen."

"Dann werde ich mich auch zu keinem weiteren Gespräch bereitfinden."

"Ihr könntet es bereuen."

"Sei's drum."

"Nun..." begann der Stadthauptmann, zögerte, warf einen Blick in die Runde und faßte einen Entschluß, als er keinen Zuhörer in unmittelbarer Nähe ausmachen konnte. "Ich wollte Euch fragen, ob Ihr vielleicht den Wunsch habt, den König, Eure Frau, Euren Bruder oder Don Philipp umbringen zu lassen? Ich nehme noch Aufträge entgegen, und auf einen mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an."

"Ich glaube, Ihr seid verrückt geworden," staunte Don Raffael.

"Ich? Gewiß nicht. Aber für den Rest der Welt würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Hört mir zu. Don Philipp verlangt von mir die Vergewaltigung Eurer Frau und die Ermordung Eurer eigenen hochgeschätzten Person — ersteres sofort und letzteres in absehbarer Zeit. Ob ich es selbst tue oder jemand anderen in die Lage setze, es auszuführen, spielt dabei keine Rolle. Der König ist besessen von dem Wunsch, daß Eure Frau Corvalla nicht lebend verlassen darf, und hält mich für die geeignete Person, sie von hier geradewegs ins Reich der Engel zu schicken. Euer großmächtiger Bruder hinwiederum... — nun, in der kurzen Zeit, die ihm bleibt, möchte er unbedingt noch den König beerdigen! Er hat mich gestern nachmittag vor die Wahl gestellt... Also... — wenn ich zusammenfasse, was Euer Bruder mit wesentlich mehr Umschweifen gesagt hat: entweder verhindere ich, daß der König den letzten Februartag erlebt, oder ich erlebe diesen Tag selbst nicht mehr. Wie ist es? Wollt Ihr Euch jetzt zu einem Gespräch mit mir treffen?"


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TAURIS
Roman von Pia Frauss
20. Rösselsprünge/S